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Die USA, Bolivien und Venezuela

Präsident Evo Morales im Gespräch über die Wahl zum Verfassungskonvent und seine Regierungszeit

In Bolivien fanden am 2. Juli die Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung statt sowie ein Regionalautonomie-Referendum. Eine Woche zuvor sprach Pablo Stefanoni mit Präsident Evo Morales über die verfassungsgebende Versammlung und über seine ersten fünf Monate in der Regierung. Hier die Kurzfassung des Interviews:



Pablo Stefanoni: Die Opposition sagt, Bolivien habe die Abhängigkeit von den USA gegen die Abhängigkeit von Venezuela eingetauscht.

Evo Morales: Es gibt keine Abhängigkeit von Venezuela oder Kuba. Die beiden Schwesternationen zeigen lediglich eine große, bedingungslose Solidarität zum Nutzen der lateinamerikanischen Integration. Wir anerkennen Hilfe, zum Beispiel aus Kuba, das uns - neben Ländern wie Dänemark, Schweden, den Niederlanden und Kanada - hilft, Alphabetisierung zu erreichen. Italien und Spanien unterstützen Projekte im Bereich Straßen und Bewässerung.

Mit Argentinien kam es nach den Naturkatastrophen zur Kooperation - im Bereich Medizin und Nahrung. Ich möchte meine Ehrerbietung zum Ausdruck bringen gegenüber jenen argentinischen Soldaten, die (im März) in Bolivien starben, als sie uns Solidarität erwiesen.

Warum fürchtet sich Podemos (die rechtsgerichtete Oppositionspartei 'Sozialdemokratische Macht') vor Hugo Chavez?

Weil Chavez die USA - und die Instrumente des Bush-Imperiums - konfrontiert... auch (Ex-Präsident) Jorge "Tuto" Quiroga greift Chavez an. Aber eine Einmischung (Venezuelas in Bolivien) findet nicht statt, vielmehr Kooperation auf der Grundlage von Solidarität. Dank venezolanischer Investitionen werden wir in der Lage sein, unser Erdgas zu industrialisieren.

Hat der Bolivienbesuch von Hugo Chavez und dessen Aussagen die Beziehungen zur amerikanischen Botschaft weiter verschlechtert?

Die Botschaft und die US-Regierung verfolgen eine feste Linie: angreifen, provozieren und gegen unsere Regierungen konspirieren. Da ist beispielsweise die Sache mit Leonilda Zurita. Bis vor kurzem, als sie noch Gewerkschaftsführerin war, besaß sie ein Visum für die USA, jetzt, als Senatorin (der Morales-Partei 'Bewegung zum Sozialismus' (MAS)), wurde ihr das Visum entzogen. Ebenso erging es dem Vizeminister für Wasserangelegenheiten, Rene Orellana.

Zweitens ist da die nordamerikanische Militärpräsenz, (sie läuft) unter der Camouflage von Studenten, die hierher kommen, um Quechua zu lernen, in Wirklichkeit aber Intelligence sammeln, so glaubwürdige Quellen. Der Chavez-Besuch hat die Beziehungen nicht in Mitleidenschaft gezogen. Die Haltung der USA stand schon vorher fest: Konspiration gegen die (bolivianische) Regierung.

Kolumbien und Peru haben bereits Freihandelsabkommen (FTAs) mit den USA unterzeichnet. Venezuela sagt, die 'Gemeinschaft der Andennationen' (CAN) sei "tot". Warum wollen sie den Block dennoch unbedingt wiederbeleben?

Wenn CAN zu seinen Gründungsprinzipien - Stärkung der nationalen und regionalen Ökonomien - zurückkehrt, wäre das etwas ganz anderes. Die Freihandelsabkommen haben die CAN geschwächt. Die FTAs zerstören die kleinen Produzenten und die ländlichen Gemeinden. Dennoch, wir sind verpflichtet, zu den Prinzipien zurückzukehren und den Block zu stärken - nicht etwa zum Nutzen der transnationalen Wirtschaft, sondern zum Nutzen der kommunalen Ökonomien und der Volkswirtschaften in der Andenregion.

Welche Bilanz ziehen sie nach fünf Monaten Regierungszeit?

In fünf Monaten konnten wir uns als Regierung konsolidieren. Unsere Regierung hält an den sozialen Forderungen fest, während sie gleichzeitig strukturelle Themen angeht. Wir haben die Löhne angehoben und die 'Flexibilisierung im Arbeitsbereich' wiederaufgehoben; wir haben Alphabetisierungs- und Identifizierungsprogramme gefördert, neben gesundheitspolitischen Projekten für unsere Verwundbarsten, wie 'Operation Miracle' (ein medizinisches Behandlungsprogramm mit kubanischer Hilfe, zur Wiederherstellung des Augenlichts). Dies alles ist begleitet von einer rigiden Sparpolitik (zum Beispiel wurden die Abgeordnetendiäten und die Gehälter anderer gutbezahlter Staatsdiener halbiert) und vom Kampf gegen die Korruption im öffentlichen Sektor.

Wir haben die Kohlenwasserstoffe verstaatlicht, wir haben ein Gesetz zur Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung beschlossen. Diese Versammlung wird der Raum sein, in dem wir unseren Staat neu gründen können. Während der letzten fünf Monate haben wir ein Motto verfolgt: regieren durch gehorchen. Heute sammeln wir noch größere Unterstützung in der bolivianischen Bevölkerung (laut einer aktuellen Studie der Grupos Mori liegt die Zustimmungsrate für Evo Morales derzeit bei 81%, für Vizepräsident Alvaro Garcia Linera bei 80%).

Was unterscheidet Evo, den Präsidenten von Evo, dem Gewerkschaftsführer?

Ich sehe mich mehr als Gewerkschaftsführer denn als Präsident einer Republik. Manchmal kann ich es immer noch nicht glauben, dass ich Präsident bin. Ich mag es lieber, wenn die Leute mich Evo nennen - Companero Evo - das bedeutet, man hat mehr Vertrauen zu mir. Meine Sicherheitsbeamten nannten mich immer 'Mr. President'. Heute nennen sie mich nur noch "Presi". Wir essen, als Gleiche, zusammen. Das hat mich den Leuten von der Polizei und den Streitkräften nähergebracht.

Warum sind Sie nach wie vor Präsident der sechs Cocalero-Föderationen von Chapare? (Cocalero = Kokabauer)

Weil es diese sechs Vereinigungen einstimmig so wollten. Es ist auch eine gewisse Garantie für sie, für meine große Familie. Der politische Lernprozess begann für mich mit meinen Aktivitäten in der Bauerngewerkschaft. Gemeinsam marschierten wir, gemeinsam trugen wir das Joch der Unterdrückung, weinten um die Toten und Verletzten in Chapare. Wir tanzten zusammen und feierten unsere Triumphe. Ich werde das nie vergessen. Diese Brüderlichkeit ist auch der Grund, warum ich bereit bin, weiter Gewerkschaftsführer zu sein.

Wie reagiert die Regierung auf die Weigerung der Medizinkonzerne, die Anwesenheit kubanischer Ärzte in Bolivien zu akzeptieren?

Einige Ärzte sagen: "Kubaner raus!" Solche Ärzte haben kein Gefühl für die Mehrheit, für die Armen, die Bauern, die Indigenen - die zum erstenmal freie Gesundheitsversorgung genießen. Die Augenzentren, die unter Mitarbeit der Kubaner entstanden, sind mit modernster Technologie ausgestattet und mit Spezialisten. Ich bedaure es sehr, dass sich einige Ärzte gegen sie stellen, während doch die große Mehrheit der Bevölkerung die Anwesenheit (der Kubaner) unterstützt. Bolivianische Ärzte behandeln die indigene Bevölkerung oft wie Schweine. Die Kubaner dagegen arbeiten voller Freundschaft und Sympathie.

Kürzlich warfen Sie der Monasterios-Familie - ihr gehört das Mediennetzwerk Unitel -, vor, sie habe ihr Land illegal erworben. Sie haben angekündigt, die Regierung werde Gemeinde-Radiosender und alternative Medien fördern. Wie sehen Sie ihr Verhältnis zu den Medien?

Die Arbeitgeber sollten nicht die Einzigen sein, die eigene Medien haben. Die Armen und die Bauern haben das gleiche Recht auf eigene Medien. Die großen Mediennetzwerke sind heute die einzige Opposition. Sie verteidigen die Interessen einer handvoll Familien, die von der Politik leben und in deren Händen ökonomische Macht konzentriert ist. Das musste sich ändern. Jetzt, nachdem wir ihnen ihr Babyfläschchen (die großen Medienkonzerne) weggenommen haben, sind sie sauer und greifen die Volksbewegung und die MAS-Regierung tagtäglich an.

Ihre "Agrarrevolution" - wie weit wird die gehen?

Wir fangen an, die Agrarrevolution vorzubereiten. Dabei geht es nicht um simple Verteilung bzw. Neuverteilung von Land, sondern auch um die Schaffung von Märkten für Produkte und um eine Mechanisierung auf dem Land. Wir haben damit begonnen, öffentliches Land neu zu verteilen. Wir werden fortfahren mit (der Neuverteilung von Land der) Latifundios (Großgrundbesitz), denn die (Latifundistas) kommen ihrer sozialen und wirtschaftlichen Funktion nicht nach.

Viele fragen sich, "wozu brauchen wir eigentlich eine verfassungsgebende Versammlung, wenn wir einen Präsidenten haben, der die Sozialbewegung repräsentiert?" Welchem Zweck soll die Versammlung also dienen?

Bei der verfassungsgebenden Versammlung geht es darum, die Struktur unseres Staates friedlich zu verändern. Es geht um die Wiederaneignung von Land und der natürlichen Ressourcen und um eine kommunitaristische Justiz - heute basiert unser Justizsystem ja auf Erpressung und Korruption - sowie um die Neugründung unserer Nation unter Einbeziehung der nationalen Mehrheiten. So werden wir die Ursünde Boliviens wieder rückgängig machen: 90% der Bevölkerung waren bei Staatsgründung Boliviens außen vor.

Im Wahlkampf haben Sie erklärt, Sie seien Sozialist. Sind sie das noch immer?

Natürlich, das ist das Ziel.

* Aus: Greenleft / ZNet 03.07.2006; im Internet: www.zmag.de


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