Bruderzwist im bolivianischen Verfassungsprozess
Indigene Organisationen fordern höhere Zahl an Quotenplätzen
Von Benjamin Beutler *
Boliviens Verfassungsprozess geht in seine letzte Phase. Vergangene
Woche unterzeichnete Präsident Morales mit dem neuen Wahlrecht die
dritte von fünf fundamentalen Normen gemäß der neuen Verfassung zur
legislativen »Neugründung Boliviens«.
Bis zum 22. Juli bleibt dem Gesetzgeber in La Paz noch Zeit, um
nationales Recht der neuen Magna Charta anzugleichen. Das in Kraft
getretene Wahlrecht »schreibt das Referendum fest, damit das Volk über
Themen befragt werden kann, die mit der sozialen und wirtschaftlichen
Entwicklung zu tun haben«, so Präsident Evo Morales im Palacio Quemado.
Per Referendum können entscheidende Fragen der Wählerschaft vorgelegt
werden, ein Wunsch, den Morales seit seinem Amtsantritt 2006 mehrfach
zur Diskussion gestellt hatte. Doch die Basisdemokratie hat auch ihre
Grenzen. Bei »Gefährdung der inneren Einheit« sei ein Plebiszit
ausgeschlossen, so die vage Einschränkung. Ohne Zweifel ist das neue
Wahlrecht ein Schritt zur mehr Mitbestimmung aller Bevölkerungsgruppen.
Es bedeute eine »Stärkung für die interkulturelle Demokratie«, so
Morales, der erste indigene Staatspräsident des südamerikanischen Landes
zwischen Anden und Amazonas mit seinen 35 Ethnien. In indigenen
Wahlkreisen können diese politische Vertreter »nach eigener »Tradition«
wählen. Das neue Wahlrecht ermöglicht neben dem Wahlsystem erstmals
einer Parteienfinanzierung durch den Staat und Wahlwerbung auch die
Aufteilung der Wahlkreise.
Beim letzten Punkt ist es jüngst zum politischen Bruderstreit gekommen.
Kritische Stimmen kommen aus dem amazonischen Tiefland. Zu wenig sei die
»Regierung der sozialen Bewegungen« auf die indigene Mitbestimmung
eingegangen, so der Vorsitzende der »Konföderation der Indigenen
Boliviens« (CIDOB), Adolfo Chávez. Der Dachverband der Indigenen aus dem
Osten des Landes ist Mitglied im »Einheitspakt« sozialer Bewegungen
pocht seit Wochen auf eine Ausweitung seiner politischen Einflussnahme.
Statt der im neuen Wahlrecht festgelegten sieben »indigenen
Parlamentssitze« fordern die hauptsächlich Guaraní-Indigenen eine
Ausweitung auf 18 Quotenplätze. Sie sehen sich gegenüber den Aymara und
Quechua aus dem andinen Hochland benachteiligt.
Die Regierungspartei »Bewegung zum Sozialismus« (MAS) lehnt das ab. Ein
Zensus 2011 soll klären, ob die Forderung auf Grundlage tatsächlicher
indigener Bevölkerungsanteile gerechtfertigt sei. Erst dann könne man
die Anhebung der Sitzverteilung per Gesetz definieren. Doch die
schlagkräftige Indigenenorganisation will nicht warten. Mit ihren
Protestmärschen hatte sie die »Indigenen-Frage« Anfang der 90er auf die
politische Agenda Boliviens gebracht und sieht ein Spiel auf Zeit. Seit
über zehn Tagen sind darum Hunderte Tiefland-Indigene auf einem
Fußmarsch gen Regierungssitz unterwegs.
Zwischen CIDOB und MAS hat es seitdem viel böses Blut gegeben.
Persönliches Machtstreben sei der Grund der »übertriebenen Forderungen«,
so der Regierungspalast. »Ausländische Nichtregierungsorganisationen«
und die US-Entwicklungsbehörde USAID wollten die Indigenen Boliviens
gegeneinander ausspielen, mutmaßte Morales. CIDOB hingegen beschuldigt
die Regierung medienwirksam des »Verrats an den Indigenen«.
Eine schnelle Einigung scheint nicht nah. Ein Treffen von
MAS-Autonomieminister Carlos Romero mit CIDOB-Funktionären am Freitag
brachte statt Annäherung eine neue Forderung auf den Tisch: Einzig
Präsident Morales akzeptiere man als Verhandlungspartner. Der steht nun
unter Zugzwang. Auf dem Spiel steht nicht weniger als die
Glaubwürdigkeit der »demokratisch-kulturellen Revolution«.
* Aus: Neues Deutschland, 5. Juli 2010
Zurück zur Bolivien-Seite
Zurück zur Homepage