Die Sackgasse von Sucre
Die von Evo Morales angekündigte "Neugründung" Boliviens droht zu kippen
Von Gerhard Dilger, Sucre *
Polarisierung ohne Ende: Vier Monate nach Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung
streiten in Bolivien Regierung und Opposition immer noch über deren Geschäftsordnung. Derzeit
scheint eine Einigung weit entfernt.
»Bolivien wandelt sich. Evo hält Wort«, heißt es in den Fernsehwerbespots der Regierung. Bolivien
wandelt sich: Vor kaum einem Jahr gewann der Aymara-Indianer Evo Morales die Präsidentenwahl.
Seitdem ist der Andenstaat ein einziges Versuchslabor mit dem Ziel, die bisherigen
Machtverhältnisse auf den Kopf zu stellen.
Evo hält Wort. Auch das ist neu: dass ein Staatschef seine Wahlkampfversprechen ernst nimmt. Die
Nationalisierung der Erdgasvorkommen war sein wichtigstes. Als er am 1. Mai ein entsprechendes
Dekret verkündete, sorgte er weltweit für Aufsehen. Ende Oktober willigten sämtliche im Lande
tätigen Energiemultis ein, sich der Kontrolle der Regierung zu unterwerfen. Diese Maßnahmen
waren klassenüberschreitend populär.
Das zweite eingelöste Versprechen war die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung.
Indigene Gruppen hatten diese lange gefordert, und vor allem die sozialen Bewegungen sahen sie
als Voraussetzung für eine »Neugründung« des Landes. Nach den Wahlen im Juli hält die
»Bewegung zum Sozialismus« (MAS), Morales' Partei, darin die absolute Mehrheit der Sitze.
Vor vier Monaten trat die Versammlung in der malerischen Hauptstadt Sucre erstmals zusammen,
doch bisher hat man sich nicht einmal über die Geschäftsordnung verständigt. Dem neuen
Grundgesetz müssen mindestens zwei Drittel der 255 Parlamentarier zustimmen, darauf einigten
sich Regierung und Opposition im März. Doch bald ruderte Morales zurück und wollte diese
Bestimmung nur auf den Gesamttext bezogen wissen. Seither wird über den Abstimmungsmodus
gestritten. Dass die Verfassung wie geplant im August 2007 in Kraft treten könnte, wird immer
unwahrscheinlicher.
»Die MAS will alles entscheiden«
Seitdem die MAS-Mehrheit vor drei Wochen die Position des Präsidenten durchsetzte, die einzelnen
Artikel mit einfacher Mehrheit zu verabschieden, geht nichts mehr in Sucre. Zunächst traten die
Abgeordneten der Mitte-Rechts-Partei »Nationale Einheit« (UN) in den Hungerstreik. »Uns droht
eine Regierung wie die von Fujimori in Peru«, sagt UN-Chef Samuel Doria Medina, der dreizehn
Tage lang auf einem Matratzenlager im Plenarsaal hungerte. »Die MAS will alles alleine
entscheiden, aber ohne Gegengewicht gibt es keine Demokratie. Und bei der Schlussabstimmung
können sie uns mit dem Druck der Straße ausschließen und so die Zwei-Drittel-Mehrheit
bekommen.« »Drei Widersprüche« hält der Unternehmer und ehemalige Präsidentschaftskandidat
der MAS vor: »Morales sagt, die oberste Instanz sei die verfassunggebende Versammlung – in
Wirklichkeit entscheidet er.« So habe Mitte November ein Gesandter der Regierung die Einigung in
letzter Minute verhindert. »Sie reden immer davon, alle einzubeziehen, und doch schließen sie die
Hälfte des Landes aus. Und sie sagen, sie wollen den Wandel, aber wie die früheren
undemokratischen Parteien sind sie unfähig zu Kompromissen.«
Auf seine Weise bestätigt Miguel Peña den Befund des Oppositionspolitikers. »Die absolute
Mehrheit ist nicht verhandelbar«, findet der Mojeño-Indianer aus der Tieflandprovinz Beni, der auf
dem MAS-Ticket gewählt wurde und im Präsidium der Versammlung mit die Weichen stellt. »Die
kleinen Gruppen, die jahrhundertelang die Ausplünderung Boliviens organisiert haben, können nicht
akzeptieren, dass sie jetzt ihre Privilegien abgeben müssen.« Den Hungerstreik bezeichnet er als
»Marketingaktion«: »Die Rechte hat sich verrechnet.« Auch Arminda Herrera sitzt für die MAS im
Verfassungsparlament. Sie gehört zu den Hinterbänklern der Partei, die sich beim strittigen Votum
im November übergangen fühlten: »Einige von uns haben vor Ohnmacht geweint«, erinnert sich die
28-Jährige. Plötzlich habe die Fraktionsspitze einen neuen Text vorgelegt und damit auch
Abgeordnete der kleinen linken Gruppen vor den Kopf gestoßen. Zwar glaubt auch sie, dass »die
Rechte vor allem blockieren will«, doch sie fragt: »Warum soll es nicht möglich sein, vernünftige
Vorschläge aus anderen Parteien zu akzeptieren?«
MAS-Fraktionsvorsitzende Mirtha Jiménez verteidigt hingegen das Prinzip des demokratischen
Zentralismus. »Natürlich gibt es verschiedene Strömungen in unserer Partei, und mit den sozialen
Bewegungen gibt es regelmäßige Rücksprachen«, sagt die Architektin, die jetzt wieder auf die
Opposition zugehen will – »mit Ausnahme von Podemos«, der mit 62 Parlamentariern größten
konservativen Fraktion. »Wir können uns über vieles einig werden«, versichert Jiménez, »aber
bestimmt nicht über die Autonomie für die Provinzen, die die Rechte fordert, und auch nicht über die
Landfrage.«
Podemos will Bild der Unruhe vermitteln
Die Hungerstreikbewegung hat sich ausgeweitet. Im ganzen Land beteiligen sich 600 Menschen
daran, Anfang der Woche schlossen sich vier oppositionelle Gouverneure und die Podemos-
Kongressabgeordneten im Regierungssitz La Paz an. Dort attackierten MAS-Anhänger am Dienstag
eine Gruppe Hungerstreikender in einer Kirche. Der Regierung ist das peinlich, denn am Freitag
werden in Cochabamba Südamerikas Staatschefs zum Gipfeltreffen erwartet. »Podemos will mit den
Streiks ein Bild der Unruhe, der Unzufriedenheit vermitteln«, erkannte Innenministerin Alicia Muñoz.
Am kritischsten ist die Lage in der östlichen Provinz Santa Cruz, wo Agroindustrielle und
Großgrundbesitzer auch wegen des kürzlich verabschiedeten Gesetzes über eine Landreform
aufgebrachter sind denn je. Gouverneur Rubén Costas, der jetzt auch für die Zwei-Drittel-Mehrheiten
in Sucre hungert, drohte vorgestern mit der Ausrufung einer »wirklichen Autonomie«.
Evo Morales, selbst erfahren in zivilem Ungehorsam, forderte die Demonstranten zum Einlenken
auf: »Alle Mobilisierungen sollten eingestellt werden, dann ist es möglich, sich zu einigen«,
appellierte er. Doch in der Sache blieb Morales hart: »Niemals werden wir uns ergeben«, rief er in
einer Kleinstadt im Andenhochland, »es geht darum, Bolivien zu verändern, es geht darum, die
natürlichen Ressourcen zurückzugewinnen«. Die Hungerstreikenden wollten bloß »die Privilegien
einiger Sektoren im Osten verteidigen«.
Die permanente Polarisierung schreckt auch die Armee auf. »Wir gehen nicht davon aus, dass es zu
einer Teilung des Landes kommen könnte«, sagte Heereskommandant Freddy Bersatti, »aber schon
zu Auseinandersetzungen zwischen Bolivianern. Das Heer ist bereit, der Polizei zu helfen, falls es
nötig werden sollte.« Versöhnliche Töne kamen vorgestern nur von Vizepräsident Álvaro García
Linera, der sich schon öfter erfolgreich als Feuerwehrmann betätigte: »Der Präsident ist zu einem
Pakt über die Autonomie der Provinzen bereit, wenn im Gegenzug die nationale Einheit respektiert
wird«, sagte er. Auch in der Frage der Mehrheiten in der verfassunggebenden Versammlung ließ der
Vizepräsident schon mehrfach durchblicken, dass er zu größeren Kompromissen bereit wäre als
Morales.
Auch in Sucre steigt die Spannung. Schon bald könnten tausende Kleinbauern dort der MAS zur
Seite springen, kündigte ein Gewerkschaftsfunktionär an. Und vorgestern Abend marschierten 2000
wohlsituierte Bürger mit dem Segen des örtlichen Erzbischofs zum Gran-Mariscal-Theater, wo statt
des Verfassungsparlaments die hungerstreikenden Politiker die Hauptrolle spielen.
Der rechtsliberale Abgeordnete Ricardo Pol, einer der ersten Streikenden, rechnet nicht mit einer
schnellen Lösung: »Wir haben eine komplizierte politische Kultur«, sagt der Anwalt aus
Cochabamba. »Sie erkennen uns Weiße nicht wirklich an, dazu muss noch viel Zeit vergehen. Jetzt
wollen sie uns erst mal spüren lassen, dass sie die Macht haben.«
* Aus: Neues Deutschland, 7. Dezember 2006
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