Bolivien: Wahlen im ärmsten Land Südamerikas
"Protestanten" chancenlos
Der folgende Beitrag, den wir der Schweizer Wochenzeitung WoZ entnommen haben, versucht, etwas Licht in den Dschungel der Parteien und politischen Kräfte Boliviens zu bringen. Das Land steht vor wichtigen Wahlen.
Hugo Velarde
... Von den etwa 8,5 Millionen EinwohnerInnen Boliviens sind die Volljährigen
am 30. Juni aufgerufen, den Staatspräsidenten, den Vizepräsidenten, 27
Senatoren und 130 Abgeordnete neu zu wählen. Für kein Lager zeichnet
sich eine klare Mehrheit ab. Bisher regiert der Ökonom Jorge Quiroga
Ramirez, gestützt auf die Megakoalition aus Demokratisch
Nationalistischer Allianz (ADN), Revolutionärer Linksbewegung (MIR) und
Solidarischer Bürgerunion (UCS). Quiroga, zuvor Vizepräsident des
Landes, war Nachfolger von Hugo Bánzer Suárez, der im vorigen Jahr
infolge einer Krebserkrankung zurücktrat und kürzlich starb.
Manfred Reyes Villa, Leutnant a. D. und früher Bürgermeister
Cochabambas, geht als Favorit ins Rennen. Seine Neue Republikanische
Kraft (NFR) spaltete sich wegen Konflikten im Bürgertum von Santa Cruz
und Cochabamba von der ADN ab. Der zweite Mann dieser Partei, Ivo
Kuljis, ist ein erfolgreicher Import-Export-Unternehmer, der vor allem für
Liberalismus, Katholizismus und «abendländische Werte» steht. Der
Populist Reyes Villa könnte es auf 27 Prozent der Stimmen bringen und
eine Koalitionsregierung mit Jaime Paz Zamora bilden. Dieser war von
1989 bis 1993 Präsident des Landes und ist Spitzenkandidat des MIR.
Paz Zamora liegt mit etwa elf Prozent in den Prognosen weit hinter Reyes
Villa. Der bolivianische MIR, Mitgliedspartei der Sozialistischen
Internationale, hat Ende der achtziger Jahre einen Kurswechsel vollzogen
und sich von einer eher sozialistischen zu einer bürgerlichen Kraft
gewandelt. Die Partei sorgte in letzter Zeit aber vor allem für
Drogenskandale und Korruptionsaffären. Die USA verweigerten MIR-Chef
Zamora in den neunziger Jahren sogar ein Einreisevisum, was in den
besseren Kreisen Boliviens als eine fürchterliche Strafe gilt. Zamora hatte
sich geweigert, sich von seinem wegen Drogenhandel im Gefängnis
sitzenden Vize, Oscar Eid, zu distanzieren. Der MIR gehört als
«linkskatholische Flexibilitätspartei» heute zum «unverrückbar
katholisch-liberalen Lager». 1997 trat er zur allgemeinen Verblüffung der
Koalition Hugo Bánzers bei. Ohne die Stimmen des MIR wäre Bánzer, der
die blutige Diktatur von 1971 bis 1978 befehligte und in dieser Zeit auch
Paz Zamora einsperren liess, 1997 nicht Präsident geworden.
Zweitstärkste Partei wird voraussichtlich der MNR
(Nationalistisch-Revolutionäre Bewegung). Der Bewegung werden etwa 22
Prozent eingeräumt. Allerdings fehlt ihr ein Koalitionspartner. Einerseits
hat die ehemalige Staatspartei seit Anfang der siebziger Jahre Probleme
mit den Militärs (die damals die ADN aufzogen), andererseits wandte sie
sich gegen die politischen Umtriebe des MIR. Dass Paz Zamora mit
Bánzer koalierte, war der Partei Grund genug, «für alle Zeiten» den
MIR-Opportunismus zu verdammen. Andererseits kündigten ADN und MIR
an, unter keinen Umständen mit dem «Proamerikaner» Gonzalo Sánchez
de Lozada zu koalieren. Er, der Spitzenkandidat des MNR, war von 1993
bis 1997 Präsident des Landes. Die Kandidaten der anderen Parteien
vermeiden die direkte Konfrontation mit Sánchez de Lozada, dem
gebildeten und rhetorisch brillanten «Gringo». Sánchez de Lozada hat in
den USA studiert, ist ein erfolgreicher Unternehmer und gilt zugleich als
«protestantisch»; also als nicht korrupt, was in Bolivien potenzielle
Bündnispartner abschreckt. Er hat aber auch die Privatisierung staatlicher
Schlüsselunternehmen zu verantworten. Diese wurden mafios geführt, und
so wurde die Liberalisierung zunächst als «strukturelle
Antikorruptionsmassnahme» begrüsst. Doch auch die Erlöse aus der
Privatisierung verschwanden im Dschungel der bolivianischen Ökonomie.
Dennoch kann Sánchez de Lozada auf die Unterstützung der traditionellen
Linken zählen. MIR-Abtrünnige und kommunistische Splittergruppen
gehören zu seinem Bündnis.
Ein weiterer wichtiger Faktor ist die indianisch geprägte Authentische
Solidaritätsbewegung (MAS) von Evo Morales. Er wurde kürzlich seines
Abgeordnetenmandats enthoben. Das hindert den Bauernführer aus dem
subtropischen Chapare-gebiet allerdings nicht daran, erneut zu
kandidieren. Im Chapare hat Morales die Verteidigung des Kokaanbaus,
der das Überleben tausender Kleinbauern sichert, zu seinem politischen
Programm gemacht. Morales’ Eintreten gegen den US-geleiteten «War on
Drugs» könnte dazu führen, dass seine Partei dem MIR den dritten Rang
ablaufen könnte.
Aber Prognosen und Wahlumfragen gleichen in Bolivien einem Parfüm: gut
zum Riechen, schlecht zum Trinken. Die Stimmung ist unberechenbar
genug. Und in den ländlichen Gebieten kommt es immer wieder zu
Wahlfälschungen. «Wo das Gesetz waltet, waltet auch dessen
Verletzung», lautet ein Sprichwort im ärmsten Land Südamerikas.
Wahlmüdigkeit kommt in Bolivien nicht auf. Die Verletzung der Wahlpflicht
kann schwerwiegende Konsequenzen haben, zumindest im Einzugsgebiet
der grösseren Städte. Diese reichen vom sofortigen Einzug der
Personalausweise bis zur Sperrung der Bankkonten. Auch die
Aufmerksamkeit des Fiskus gilt bevorzugt den Wahlsäumigen.
Aus: WoZ, 20. Juni 2002
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