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Wir brauchen einen aktiven Staat

Planungsministerin Elba Viviana Caro Hinojosa über Boliviens Entwicklungsstrategie *


Elba Viviana Caro Hinojosa ist seit 2010 Ministerin für Entwicklungsplanung. Die in La Paz geborene Bolivianerin studierte Wirtschaft in Peru und den USA. Sie war langjährige Beraterin und Forscherin zu Wirtschaftsfragen und zuletzt Direktorin der einflussreichen Beratergruppe für Sozial- und Wirtschaftspolitik (UDAPE) der bolivianischen Regierung. Für »nd« sprach mit ihr Benjamin Beutler über Boliviens Entwicklungsstrategie und Kritik aus dem Westen.


Was für ein Entwicklungsmodell verfolgt Bolivien heute?


Wir streben ein nachhaltiges Entwicklungsmodell an. Widersprüche zwischen Mutter Erde und Entwicklung öffentlicher Güter gilt es zu vermeiden. Die harmonische Nutzung unserer natürlichen Ressourcen ist uns sehr wichtig, besonders die Umweltverträglichkeit. Wir folgen keinen bestehenden Entwicklungsmodellen, sondern bestreiten einen eigenen Prozess des Nachdenkens.

Welche Rolle kommt dem Staat dabei zu?

Im Gegensatz zu den letzten Jahrzehnten greift der Staat wieder aktiv ein. Wir wollen aber kein nur staatsbasiertes Modell sein. Aktuell beträgt die Staatsquote 34 Prozent. Vor dem Antritt der Morales-Regierung 2005 waren es 19 Prozent, in den 2000ern sogar nur zwölf Prozent. Das heißt, das 66 Prozent heute von den anderen Akteuren der pluralen Wirtschaft generiert werden: Privatsektor, Kleinst,- Klein- und Mittlere Unternehmen, Kooperativen, bäuerliche Wirtschaft. Diese Mischung wollen wir erhalten.

Kritiker rechts wie links sprechen von Boliviens »Neo-Extraktivismus«. Damit bezeichnen sie den forcierten Abbau von Bodenschätzen wie Gas und Mineralien.

Fakt ist: Durch das beschleunigte Wirtschaftswachstum von China ist auch seine Nachfrage nach Rohstoffen gestiegen. Darauf haben sich viele Ökonomien eingestellt, insbesondere in Lateinamerika. In Bolivien sind wir darauf angewiesen, unsere natürlichen Ressourcen abzubauen. Und nicht nur Mineralien und fossile Brennstoffe, auch Holz und andere. Der Schwerpunkt liegt aber ganz klar auf Industrialisierung. Wir sind seit neun Jahren an der Regierung. Wir waren davon ausgegangen, dass in den ersten fünf Jahren viel geschafft wird. Doch ist der Start eines Industrialisierungsprozesses sehr schwer. Vor allem, weil der Rohstoffabbau in Bolivien quasi von Null wieder aufgebaut werden musste.

Gibt es erste Ergebnisse bei der Industrialisierung?

Eine Gas-Trennungs-Raffinierie und eine Düngemittel-Fabrik stehen vor der Fertigstellung, im Bergbau neue Eisenschmelzen. Der Abbau von Rohstoffen antwortet allerdings nicht nur auf die Nachfrage externer Märkte sondern gibt auch eine Antwort auf interne Dynamiken. Wir müssen Arbeitsplätze schaffen. Bergbau und die fossile Brennstoffwirtschaft selbst können direkt dazu nicht besonders viel beitragen. Öl und Gas sind ein sehr kapitalintensiver und technifizierter Sektor. Aber sie erzielen Überschüsse. Diese fließen an soziale Projekte, die Entwicklung des Binnenmarktes oder die Schaffung von Arbeitsplätzen. Bei Boliviens Bergbau ist die Sache anders gelagert, der kooperative Sektor und kleine Produzenten spielen dort eine wichtige Rolle. Klar ist aber auch, dass es ein Sektor ist, der modernisiert werden muss, um nachhaltig zu sein.

Was an der neuen Wirtschaftspolitik ist eigentlich sozialistisch?

Wie sozialistisch, oder welche Art von Sozialismus wir einführen, darüber wird viel diskutiert. Grundlage ist ganz klar die organisierte, gesellschaftliche Beteiligung der Bevölkerung. Das ist die sozialistische Essenz dieses Modells.

Was sagen Sie denen, die aus ökologischen Gründen den Bau von Straßen und Infrastruktur kritisieren?

Die Gefahren für Mensch und Umwelt müssen natürlich auch berücksichtigt werden. Die regionalen Ungleichgewichte in Bolivien waren traditionell immer groß. Eines unserer Hauptziele ist hier, für mehr Gleichgewicht zu sorgen. Fakt ist: Boliviens Straßennetz ist nur 16 000 Kilometer lang. Damit sind wir eines der Länder Lateinamerikas mit den wenigsten Straßen. Straßen als öffentliches Gut haben für Europa, Asien sowie Lateinamerikas immer eine wichtige Rolle gespielt. Straßen haben für Anschluss, Transportverbindungen und Verkehr eine unbestreitbare Bedeutung. Ihr Fehlen schadet dem Zusammenhalt eines Landes. Vor fünf Jahren hatten wir ein sehr dünnes Straßennetz, im gesamten nördlichen Amazonas des Landes war fast nicht vorhanden. Ein Land kann so etwas nicht zulassen. Der Staat muss präsent sein, Institutionen müssen alle Staatsbürger erreichen. Ohne Straßen ist das nicht machbar. Und die Menschen fordern dieses öffentliche Gut. Weil es Zugang zu sozialen Leistungen mit sich bringt, weil eine Straße neue Möglichkeiten eröffnet.

Was hat es mit den jüngsten Regierungsplänen zum Bau eines Atomreaktors auf sich?

Energie ist heute zentraler Bestandteil von Entwicklung. Wenn wir von Kernenergie reden, darf nicht vergessen werden, dass Bolivien laut Verfassung ein pazifistischer Staat ist, kein aggressiver. Die Kernenergie ist für uns grundlegender Bestandteil für Technologieentwicklung. Bolivien muss einen bedeutenden Technologiesprung machen. Zumal wir über die natürlichen Ressourcen verfügen, die diesen Sprung ermöglichen. Es ist unsere Pflicht, die technologische Kluft des Landes zu überwinden, die Bolivien den Zugang zu anderen Wirtschaftssektoren und Märkten verhindert. Für uns bedeutet Kernenergie also das Schließen vieler dieser Lücken. So wird dem Land eine starke produktive Struktur möglich, sowie die Entwicklung mit der Kernenergie zusammenhängender Technologien, die sonst nicht ins Land kommen.

Mehr Rohstoffabbau, mehr Straßen, jetzt noch Kernenergie: Gegenwind an Boliviens Entwicklungsstrategie kommt vor allem aus den Industriestaaten ...

Wir machen die Dinge sehr gut. Die meiste Kritik ist eine Kritik aus der Perspektive von Akademikern. Die Empfindlichkeiten und Sensibilitäten, die Bolivien entgegengebracht werden, haben auch damit zu tun, dass wir heute versuchen, uns neues Wissen selber anzueignen. All unsere Anstrengungen liegen in der Förderung von Schlüsselprozessen, die für andere Entwicklungsmodelle und Ökonomien genauso wichtig waren. Wir sind zufrieden, weil wir Dynamiken schaffen, die langfristig wirken. Und die in zurückliegenden Jahren längst hätten geschaffen werden müssen. Bolivien ist schon immer ein rohstoffreiches Land gewesen: Ein Entwicklungsmodell mit mehr Integration, mit eigenen Vorstellungen, Wissen und Eigenständigkeit hätte längst geschaffen werden können.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 29. April 2014 (Kommentar)


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