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"Das Volk hat ein sehr waches Bewusstsein"

Leonilda Zurita Vargas über den Wandel in Bolivien unter Evo Morales und die Chancen seiner Wiederwahl *


Leonilda Zurita Vargas, langjährige Wegbegleiterin des bolivianischen Präsidenten Evo Morales, war Kokabauern-Gewerkschafterin und Mitbegründerin der Bewegung zum Sozialismus (MAS). Heute leitet sie die Außenbeziehungen der MAS und steht als Generalsekretärin der Landfrauenorganisation »Bartolina Sisa« vor. Mit ihr sprach für »nd« Benjamin Beutler.


Ende 2014 gibt es in Bolivien Präsidentschaftswahlen. Das Land verzeichnet das stärkste Wachstum seit 30 Jahren, alles spricht für eine Wiederwahl von Evo Morales. Was macht die Linksregierung in La Paz anders als seine Vorgänger?

Seit Evo Morales 2005 zum Präsidenten der Republik Bolivien gewählt wurde, hat sich viel verändert. Privatisierte Staatsunternehmen wurden zurückerobert. Am 1. Mai 2006 hat Morales die fossilen Brennstoffe nationalisiert: Blieben vorher von 1000 Dollar Erlösen nur 180 für Bolivien – der Rest ging an die Privatunternehmen, behält der bolivianische Staat heute 820 Dollar. Die Staatswirtschaft wächst, und verteilt Mittel an das Volk, in alle Teile des Landes.

Wohin genau?

Es gibt Sozialprogramme für über 60-Jährige. Kinder erhalten Schulgeld. Früher ging jeder Sechste nicht zur Schule, heute fehlt nur noch einer von zehn, ein großer Fortschritt. Ein Schultag dauert an allen Schulen jetzt mindestens acht Stunden. Für Schwangere und junge Mütter gibt es bis zum zweiten Lebensjahr Geldzahlungen. Der neue Reichtum wird an bisher Vergessene und an arme Regionen in Bolivien umverteilt.

Boliviens Wirtschaft wächst unbestritten. Kommt das auch unten an?

Ja. Schauen wir uns den Mindestlohn an. Bei einer einfachen Hausangestellten lag dieser bei 200 bis 300 Bolivianos (knapp 20 bis 30 Euro). Heute sind es 1220 Bolivianos. Oder die Währungsreserven: Nach 180 Jahren der Republik wurden uns nur 1,7 Milliarden Dollar Währungsreserven hinterlassen. Nach acht Jahren Morales stehen wir bei 14 Milliarden Dollar. Heute sind wir dank größerer Steuereinnahmen sogar wieder so kreditwürdig, dass wir Geld für Investitionen am internationalen Kreditmarkt leihen können. Wir haben neue, staatliche Industrien, um den Rohstoffen einen Mehrwert hinzuzufügen, eine erste Düngemittelfabrik, eine erste Erdöl-Raffinerie. Schritt für Schritt wird Boliviens Wirtschaft wachsen, um der Bevölkerung zu dienen.

Wenn das Land auf einem guten Weg ist: Warum sollte Morales fünf Jahre ranhängen?

Um sein Projekt in Ruhe zu Ende zubringen. In seinen ersten vier Regierungsjahren gab es Putschversuche, sogar Mordpläne gegen den Präsidenten durch eine ausländische Söldnergruppe. 2008 hat die US-Botschaft Schlägerbanden aufgestellt, um in Santa Cruz, Cochabamba und in Sucre, wo damals die Verfassunggebende Versammlung tagte, gegen MAS-Anhänger vorzugehen und Tote zu provozieren. Für jeden Schläger gab es 200 Bolivianos (knapp 20 Euro), für jeden Demonstranten 100 Bolivianos. Das Volk hat aber ein sehr waches Bewusstsein. Es ist vom Schlaf in den Wachzustand gekommen. Es setzt auf den revolutionären, demokratischen und kulturellen Wandel. Diese Veränderung kommt aus den sozialen Bewegungen und Basisorganisationen. Darum sagt das Volk: Der Präsident muss noch einmal ran. In seinen Grundzügen steht dieses Haus der Nation, das casa grande. Jetzt muss es zu Ende gebaut werden.

Kann sich die Opposition nach venezolanischem Vorbild auf einen Einheitskandidaten einigen?

Eine echte Opposition gibt es nicht, das sind kleine Grüppchen. Sie werden uns nie verzeihen, was wir politisch umsetzen, dass wir ihnen die Nuckelflasche des Staates weggenommen haben. Parteien wie »Unidad Nacional«, »Movimiento Sin Miedo« oder »Demócratas« aus Santa Cruz haben in der Vergangenheit gezeigt, dass sie nicht wissen, wie das Land zu regieren ist. Was haben sie für Bolivien getan: nichts! Alles was sie geschafft haben, war das Land zu bestehlen, die Rohstoffe zu verschleudern, alles zu privatisieren. Selbst wenn sich diese Gruppen zusammenschließen und auf einen Präsidentschaftskandidaten einigen, haben wir keine Angst. Wir sind in einer Demokratie.

In Venezuela gehen Teile der Opposition auf die Straße. Wie kommt das in Bolivien an?

Präsident Nicolás Maduro durchlebt kritische Augenblicke. Die dortige Opposition zeigt, was wir auch in Bolivien erlebt haben: Die Verlierer können nicht verlieren. Mit allen Mitteln will die Opposition an die Macht. Viele Medien in Venezuela agieren dabei wie in Bolivien. Statt zu bilden und zu informieren hetzen sie: »Auf die Straßen!« Seit 1998 hat die Regierungspartei in Venezuela 18 von 19 Wahlen oder Referenden gewonnen, auch die letzten Kommunalwahlen. Wir sehen also eine Opposition ohne Substanz. Eine Puppe des Imperiums, die das Verlieren noch lernen muss. Auf ein Fußballfeld geht man raus, um zu gewinnen oder zu verlieren. Es geht um Sieg oder Niederlage. Der Gewinner wird gesegnet. Wer verliert, soll sich nicht ärgern. Für den nächsten Sonntag bereitest Du dich besser vor. Bei Wahlen geht es um den Sieg auf politischem Feld. Es gibt zwei Kandidaten, einer gewinnt, der andere muss das aushalten. Einziges Ziel von Venezuelas Opposition ist, die Regierungsfähigkeit unseres Bruders Nicolás Maduro zu zerstören. Das ist undemokratisch.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 26. März 2013


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