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Kampf ums Überleben

Demonstrationen gegen Korruption und Massenarmut in Bosnien gehen weiter

Von Roland Zschächner *

In Bosnien und Herzegowina wurden in dieser Woche die Proteste gegen Massenarmut, Arbeitslosigkeit und die korrupte politische Elite fortgesetzt. Seit Mittwoch vergangener Woche sind in dem südosteuropäischen Staat Zehntausende Menschen auf der Straße. In vier Kantonen mußten die Regierungen zurücktreten. Neuwahlen werden gefordert. In vielen Städten haben sich Versammlungen von Betriebsgewerkschaftern, Arbeitern, Arbeitslosen, Rentnern und Studenten gegründet. Ein Ende der Proteste ist nicht abzusehen. In Sarajevo schlossen sich bereits am Dienstag Arbeiter des öffentlichen Nahverkehrs den Aktionen an. Sie erhielten über Monate keinen Lohn. Seit Sonntag kommt es in der Hauptstadt immer wieder zu Straßenblockaden.

In größeren Städten wie Sarajevo, Tuzla, Mostar und Brcko treffen sich die Protestierenden täglich und diskutieren das weitere Vorgehen. Politiker sind in den meisten Orten ausgeschlossen. Gemeinsame landesweite Forderungen gibt es bisher nicht. Übereinstimmung herrscht darin, daß die bisherigen Privatisierungen von vormals staatlichen Firmen zurückgenommen werden müssen. Auch soll die Regierung abgesetzt und die herrschende Korruption beendet werden. Nationalismus wird abgelehnt. So war beispielsweise in Tuzla zu lesen: »Wir sind hungrig – auf drei Sprachen«. Eine Anspielung auf die drei in Bosnien lebenden Nationalitäten: Serben, Kroaten und muslimische Bosniaken.

Am Montag kündigte der Premierminister des Kantons Una-Sana seinen Rücktritt an. Seine Amtskollegen in Tuzla, Zentralbosnien und Sarajevo taten dies bereits am Wochenende. Die Landesregierung lehnt einen Rücktritt weiterhin ab. Mehrere Parteien haben vorgeschlagen, die für Herbst angesetzten Wahlen vorzuziehen – bisher gab es keine Einigung darauf. Auch die Politiker im serbischen Teil des Landes, der Republik Srpska, wollen dies nicht. Sie fürchten, daß die Bewegung auch in ihrem Landesteil anwachsen könnte – bisher war es dort vorwiegend ruhig geblieben.

Der Sänger der populären bosnischen Band »Dubioza Kolektiv«, Brano Jabukovic, solidarisierte sich am Mittwoch in einem Interview mit der Tageszeitung Oslobodjenje mit dem Aufstand. »Nur ein Narr dachte, daß die Dinge nicht eskalierten«, kommentierte er die Reaktion vieler Politiker. Sie würden nur die Gewalt hervorheben und damit die Ursachen für die Proteste verschweigen. »Das Volk kämpft täglich für Brot, die Demonstrationen sind ein untrennbarer Teil dieses Kampfes«, so der Sänger.

Die Proteste begannen in der vergangenen Woche im nordostbosnischen Tuzla. Arbeiter von fünf privatisierten und direkt in die Pleite getriebenen Firmen versammelten sich vor der Kantonsverwaltung und verlangten staatliche Hilfe. Sie forderten ausstehende Löhne und eine Begleichung der über Jahre nicht bezahlten Sozialabgaben. Außerdem verlangten sie die Revision der Privatisierungen.

Die soziale Lage in dem 3,8-Millionen-Einwohner-Land ist miserabel: Die Arbeitslosigkeit beträgt 44,8 Prozent, unter Jugendlichen ist sie noch höher. Die Vereinten Nationen führen Bosnien in ihrem Index für menschliche Entwicklung auf Rang 81, der schlechteste Wert aller ehemaligen jugoslawischer Republiken. Die Lage ist das Resultat der Zerschlagung Jugoslawiens und der damit verbundenen Abdrängung des Landes in die politische und ökonomische Peripherie. 20 Prozent der Bevölkerung leben in Armut, ein weiteres Drittel ist direkt davon bedroht. Die bosnische Mark ist an den Euro gebunden, die Preise sind vergleichbar mit denen in der Bundesrepublik, der durchschnittliche Monatslohn hingegen beträgt umgerechnet 420 Euro. Hunger ist für viele Menschen eine alltägliche Erfahrung. Zwei oder mehr Jobs sind üblich, um zu überleben. Die Renten werden verspätet gezahlt und reichen oft nicht zum Begleichen der Rechnungen aus.

Gefälschte Beweise

Mariusz Trynkiewicz, vierfacher Sexualmörder, hat am Dienstag das Gefängnis im südostpolnischen Rzeszów nach 25jähriger Haft verlassen. Er hatte 1988 mehrere Jungen sexuell mißbraucht und vier von ihnen zur Verdeckung des Mißbrauchs ermordet. Noch in der Spätphase der Volksrepublik Polen verurteilte ein Gericht in Piotrków Trybunalski den Täter zum Tode; die Hinrichtung fiel zuerst unter ein Moratorium der letzten sozialistischen Regierung Polens; später wandelte eine Amnestie unmittelbar nach dem Systemwechsel diese Strafe in 25 Jahre Haft um; lebenslänglich sah das damalige polnische Strafrecht nicht vor.

Die Aussicht, daß Trynkiewicz in diesem Monat seine Haft abgesessen haben würde, bringt den polnischen Boulevard seit Monaten zur Weißglut. Dürfe der »Teufel von Piotrków« überhaupt je wieder freikommen, fragten Zeitungen und Talkshows. Als durchsickerte, daß Trynkiewicz nach seiner Freilassung bei einem Freund in einer kleinen Stadt in Schlesien unterkommen wolle, brachten die Medien Fotos von Anwohnern mit der Ankündigung, notfalls die Justiz in die eigenen Hände zu nehmen.

Im Prinzip wäre Trynkiewicz, der seine Taten zwar seinerzeit ohne große Umstände gestanden, aber nie bereut hat, ein Fall für die Sicherungsverwahrung. Er selbst sagte von sich, seine aggressive Sexualität sei stärker als sein Wille. Obwohl er sich einer »chemischen Kastration« unterzogen hat, gilt er als weiterhin potentiell gefährlich. Das Institut der Sicherungsverwahrung soll aber erst jetzt ins polnische Strafrecht eingeführt werden. Juristen sehen zwei Gründe, warum es in diesem Fall nicht angewandt werden kann: erstens wegen des Rückwirkungsverbots – Taten dürfen nur insoweit bestraft werden, wie sie zum Tatzeitpunkt strafbar waren –, und zweitens wegen des Verbots der Doppelbestrafung.

An dieser Stelle wurde die polnische Strafvollzugsverwaltung – offenbar mit Rückendeckung aus dem Justizministerium – kreativ. Am letzten Wochenende kam der Direktor des Rzeszower Gefängnisses mit der Nachricht heraus, bei einer Durchsuchung der Zelle des Gefangenen in den letzten Hafttagen seien »kinderpornographische Materialien« und »Leichenteile« gefunden worden. Unter Berufung auf diese Funde beantragte der Direktor, die Haftentlassung auszusetzen.

Allerdings taten ihm die Richter des Rzeszówer Bezirksgerichts den Gefallen nicht. Denn die angeblichen Leichenteile waren zwei Zähne, und im übrigen stellte sich rasch heraus, daß die vom Gefängnisdirektor präsentierten Materialien keineswegs neu waren; sie waren schon vor einem Jahr sichergestellt worden und hatten damals offenbar keine Besorgnis erregt. Zum anderen erkannte das Gericht in den Unterlagen keinerlei pornographischen oder auch nur sexuellen Inhalt. Es handelte sich um Porträts seiner selbst als Kind, die Trynkiewicz schon 2012, als er im Rahmen einer Resozialisierungsmaßnahme einen Photoshop-Kurs machte, auf andere Körper montiert hatte, die auf dem Gefängnisrechner gespeichert waren. Es waren keinerlei Geschlechtsorgane oder sexuelle Handlungen auf den Darstellungen zu sehen; das einzige Element mit halbwegs erotischem Bezug aus seiner Zelle war die Zeichnung einer barbusigen Frau. Der zuständige Richter kommentierte, man würde derartige Zeichnungen wahrscheinlich in vielen Gefängniszellen finden, wenn man danach suchte.

Unter Beschuß ist jetzt Justizminister Marek Biernacki. Denn er wies nicht nur den Vorwurf einer Provokation mit dem denkwürdigen Argument zurück, wenn jemand hätte provozieren wollen, dann hätte er dem Entlassungskandidaten tragfähigeres Belastungsmaterial untergeschoben. Er rechtfertigte die Aktion des Knastdirektors auch inhaltlich. Was sei wichtiger, fragte er zurück: die Gesellschaft vor einer konkreten Gefahr zu schützen oder die Rechte des einzelnen bis zum Letzten zu verteidigen. Die Regierung Tusk fürchtet offenbar, in den bevorstehenden Wahlkämpfen von der rechten Opposition als schlapp gegenüber »dem Verbrechen« hingestellt zu werden. Und stellt in diesem Zusammenhang rechtsstaatliche Grundsätze auch schon mal zur Disposition.

* Aus: junge welt, Freitag, 14. Februar 2014


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