Amnesty kritisiert Polizeigewalt in Brasilien
Menschenrechtsorganisation sieht angestrebten ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat gefährdet
Von Fabíola Ortiz Rio de Janeiro (IPS) *
Viele Brasilianer in den Armenvierteln leiden unter Menschenrechtsverletzungen durch Staatsbedienstete. Doch gewalttätige Polizisten gingen häufig straffrei aus, beklagte dieser Tage Amnesty-Chef Salil Shetty.
Brasilien muss energischer gegen Menschenrechtsverstöße vorgehen, will sich das südamerikanische Land für einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat qualifizieren. Diese Forderung stellte der Generalsekretär von Amnesty International, Salil Shetty, nach Gesprächen mit Angehörigen von Opfern der Polizeigewalt. Den Zusagen von Präsidentin Dilma Rousseff, den Menschenrechten größere Beachtung einzuräumen, müssten nun Taten folgen. »In Brasilien gibt es eine lange Geschichte der Polizeigewalt. Seit mehr als vier Jahrzehnten beschäftigen wir uns damit«, sagte der Amnesty-Chef. Der Menschenrechtsorganisation zufolge erschießt die Polizei allein in Rio de Janeiro im Durchschnitt 1000 Menschen im Jahr. Vor allem arme Bewohner der städtischen Slums (Favelas) geraten häufig in den Kugelhagel der Sicherheitskräfte. »Bei den Opfern handelt es sich um Menschen, die keine Stimme haben, die somit weitgehend unsichtbar bleiben und von der Gesellschaft übersehen werden«, sagte Shetty nach den Gesprächen in Cidade Alta, einer Favela in Rio de Janeiro.
»Niemand hat das Recht, einem anderen das Leben zu nehmen«, hatte Joelma, eine Tante von Júlio César Menezes Coelho, dem Amnesty-Generalsekretär erzählt. Der 21-Jährige war am 18. September 2010 bei einer Polizeirazzia in Cidade Alta erschossen worden. Der Schmerz über den Verlust des Jungen halte sie am Leben, berichtete die Tante. »Ich werde um Gerechtigkeit kämpfen, bis mich die Kraft verlässt. Und ich kämpfe für alle Mütter, die ihre Kinder verloren haben.« Coelho, der Gastronomie studieren wollte, ist eines von vielen Opfern brasilianischer Polizeigewalt. Zu ihnen zählt auch Andreu Carvalho. Der 17-jährige Sohn von Deize da Silva de Carvalho war am 31. Dezember 2007 verhaftet worden. »Am nächsten Tag erfuhr ich, dass man meinen Sohn zu Tode gefoltert hatte«, berichtete die Mutter. »Die Polizei weiß, dass sie nichts zu befürchten hat, wenn sie Verbrechen an armen Schwarzen begeht.«
Shetty räumte zwar ein, dass sich die Menschenrechtslage seit dem Ende der letzten Militärdiktatur (1964-1985) erheblich gebessert habe. Dennoch gäben die verbreitete Straffreiheit für gewalttätige Polizisten und die Missstände im brasilianischen Strafvollzug noch genügend Anlass zu Kritik. So lebten 500 000 Menschen in den überfüllten Gefängnissen des Landes, sagte der Vertreter der Menschenrechtsorganisation, die in Brasilien ein Büro eröffnen wird.
Brasilien sei nach wie vor das Land mit den meisten Polizeiübergriffen in Lateinamerika, betonte auch Maurício Campos dos Santos vom Netzwerk der Gemeinden und Bewegungen gegen Gewalt, der das Zusammentreffen Shettys mit den Angehörigen der Opfer von Polizeigewalt organisiert hatte. »Die Familien kämpfen für Gerechtigkeit, und die Treffen mit dem Amnesty-Generalsekretär gaben ihnen die Möglichkeit, ihren Geschichten Gehör zu verschaffen«, sagte er. »Die Verbrechen im Ausland bekannt zu machen, bedeutet, ihnen mehr Gewicht zu verleihen.«
Amnesty International setzt sich auch für die rund 750 brasilianischen Familien ein, die den Infrastrukturprojekten für die Fußballweltmeisterschaft 2014 und die Olympischen Spiele 2016 weichen sollen. »Uns geht es nicht darum, die Sportereignisse zu verhindern. Was wir verteidigen wollen, ist das Recht auf ein bescheidenes Zuhause«, erklärte der Priester Luiz António Pereira Lopes, der sich für die bedrohten Menschen engagiert. »Vertreibungen sind Menschenrechtsverletzungen, ebenso wie die lächerlichen Entschädigungen zwischen 5000 und 6400 US-Dollar, die die Behörden zu zahlen gewillt sind.« Brasilien habe internationale Menschenrechtsabkommen und Konventionen unterzeichnet, die den Menschen ein Recht auf angemessenen Wohnraum garantieren, sagte Shetty. »Nun muss das Land zu seinem Versprechen stehen.«
* Aus: Neues Deutschland, 3. Mai 2011
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