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Brasilien zerreißt sich

Staudämme, Monokulturen, Bergbau und noch weniger Waldschutz: Amazonien und die Cerrado-Region werden weiter kolonisiert

Von Norbert Suchanek, Rio de Janeiro *

Im Prinzip sind sich Umweltwissenschaftler, Klimaschützer und indigene Völker einig: Die Amazonasabholzung muß aufhören, genauso wie die der Cerrado- und Caatinga-Wälder Zentral- und Nordostbrasiliens. Dies steht jedoch im krassen Gegensatz zum »Entwicklungs-« oder besser gesagt Kolonisierungsprogramm der brasilianischen Regierung unter Dilma Rousseff und deren Vorgänger Luiz Inácio »Lula« da Silva: Das sieht mehr Straßen, Staudämme, Erdölfördertürme, einen verstärkten Erzbergbau, weitere Rodungen für Monokulturen zur Herstellung von Agrosprit und stärkere Zersiedlung vor.

Nachdem der Kampf gegen die von Lula auf den Weg gebrachten Staudammbauten Santo Antônio und Jirau am Amazonaszufluß Rio Madeira bereits verloren war, konzentrierte sich die Aufmerksamkeit der Regenwaldschutzbewegung 2011 auf Aktivitäten gegen den Bau des gigantischen Wasserkraftprojektes Belo- Monte sowie gegen die geplante »Verwässerung« des brasilianischen Waldgesetzes (Código Florestal).

Allen Protesten und der für Juni geplanten UN-Umweltkonferenz in Rio de Janeiro (Rio plus 20) zum Trotz scheint Rousseff an Belo Monte und der Reform des Waldgesetzes festzuhalten. Die Bauarbeiten am Megastaudamm (jW berichtete) sind nicht nur weiter im Gang, ein zweites »Belo Monstrum« ist am Rio Tapajos in Amazonien in Planung. Auch das Gesetzesvorhaben zur Änderung des Código Florestal ist auf dem »rechten« Weg, die letzten Hürden Anfang 2012 zu nehmen.

Vor allem die Umweltschützer des World Wide Fund for Nature (WWF) und von Greenpeace Brasilien machten 2011 Front gegen die »Reform« und starteten internationale Aktionen, »damit die Zerstörung von 76,5 Millionen Hektar Wald« verhindert werde. »Wissenschaftler, Umweltverbände, aber auch Kirchen und Gewerkschaften, die Kleinbauernvereinigung Via Campesina und die Landlosenbewegung MST kämpfen gegen das neue Gesetz, das gigantische Waldzerstörung zuläßt, illegale Abholzungen amnestiert und von dem niemand profitiert – außer der Agrarlobby«, so der WWF.

Tatsächlich ist die Umweltsituation Brasiliens prekär. In acht Jahren Lula-Regierung wurden nicht nur die Sozial- und Umweltbewegungen regelrecht eingelullt. Alle kommen zu Wort, doch niemand hört wirklich zu, und Regierung sowie Agro- und Bergbaubranche machen was sie wollen.

Auch der Einsatz von Greenpeace und WWF für ein einst von Diktatoren geschriebenes Waldgesetz, das tatsächlich Abholzung nicht verbietet, sondern lediglich begrenzt, und für die legale Vernichtung von Dutzenden Millionen Hektar Cerrado- und Regenwald in den vergangenen 60 Jahren verantwortlich ist, scheint symptomatisch.

Der Código Florestal hat seinen Ursprung in der Regierung des Diktators Getúlio Várgas aus dem mehrheitlich von deutsch- und italienischstämmigen Immigranten geprägten und von Indianern »bereinigten« Bundesstaat Rio Grande do Sul. Dessen Waldgesetz von 1934 war faktisch Teil seines »Marsches nach Westen«, um die von Indianern genutzten und bewohnten letzten atlantischen Regenwälder und die Cerrado-Gebiete im Westen sowie im Herzen Brasiliens urbar zu machen, sprich abzuholzen und gleichzeitig die Umweltschäden in kontrollierten Grenzen zu halten. Die traditionellen Besitzrechte der Ureinwohner wurden ignoriert.

Tausende von Ureinwohnern wurden im Rahmen dieses Marsches nach Westen und Zentralbrasilien befriedet, das heißt, des Landes beraubt, in Missionen oder Reservate gesteckt oder schlicht ermordet. Ein Genozid Mitte bis Ende des 20. Jahrhunderts, der bis dato noch darauf wartet, im Detail anerkannt und aufbereitet zu werden. Der heute von Sojaplantagen und künstlichen Rinderweiden umringte, 1961 eingerichtete Xingu-Indianer-Nationalpark (Parque Indígena do Xingu), in den mehrere des Landes beraubte Indianervölker aus Zentralbrasilien »zu ihrem eigenen Schutz« umgesiedelt wurden, ist eines der markantesten Beispiele dafür.

Das aktuell zur Diskussion stehende Waldgesetz basiert auf einer 1965 von der Militärdiktatur General Castelo Brancos verabschiedeten Reform des Código Florestal von Vargas. Es legt die Abholzungsrichtlinien für ganz Brasilien fest. Demnach dürfen Grundbesitzer in Amazonien 20 Prozent ihres Waldes vernichten, in der Cerrado-Region 65 Prozent und in den anderen Gebieten 80 Prozent. Auch das reformierte Gesetz diente nur dazu, der fortschreitenden Kolonisierung Amazoniens und der Cerrado-Region einen grünen Anstrich zu verleihen. Es galt zwei Probleme zu lösen, so 1969 Präsident und Diktator General Emílio Garrastazu Médici, der für den Bau der legendären »Transamazonica«, der ersten Überlandstraße quer durch Amazonien verantwortlich war: »Menschen ohne Land im Nordosten und Land ohne Menschen in Amazonien« zusammenzubringen. Die Ureinwohner waren nur ein Hindernis.

1960 war das rund vier Millionen Quadratkilometer große Amazonasgebiet noch zu 99 Prozent Staatsland, bewohnt von Hunderten von Indianervölkern und nichtindianischen Bevölkerungsgruppen. Lediglich 0,9 Prozent waren Privatbesitz. Doch mit jedem neuen Straßenkilometer wuchsen Landraub, Bodenspekulation und Waldvernichtung an. Zwischen 1980 und 1990 holzten die »Neuankömmlinge« im Schnitt jährlich 20000 Quadratkilometer Amazonasregenwald ab. Die Geschwindigkeit verringerte sich zwar in den Folgejahren, doch liegt sie heute immer noch bei mehreren tausend Quadratkilometern pro Jahr.

So verlor Amazonien 2011 laut vorläufiger Schätzung des Nationalen Weltraumforschungsinstituts INPE (Instituto Nacional de Pesquisas Espaciais) über 6000 Quadratkilometer Wald. Schätzungsweise 25 Prozent des brasilianischen Amazonasgebiets (Amazônia Legal) sind heute »privatisiert« und größtenteils abgeholzt.

Noch schlimmer traf es die Cerrado-Region in der die meisten Flüsse Brasiliens entspringen. Von dem einst zwei Millionen Quadratkilometer großen Savannen-Ökosystem sind heute nur noch 20 Prozent intakt, so die Naturschutzorganisation Conservation International. Und auch dieser Rest steht weiterhin zum überwiegenden Teil ohne Schutz und frei zur Abholzung da.

* Aus: junge welt, 13. Januar 2012


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