Brasilien untersucht Diktaturverbrechen
Amnestiegesetz auf dem Prüfstand
Von Andreas Knobloch *
Ein knappes Vierteljahrhundert nach Ende der Militärdiktatur beginnt
auch in Brasilien endlich die Aufarbeitung der damaligen Verbrechen.
Brasilien hat Nachholbedarf. Anders als in Chile, Argentinien oder
Uruguay wurden in Brasilien die für Folter und Morde Verantwortlichen
der Militärregierungen nie vor Gericht gestellt. Das soll sich fortan
ändern. Am Montag stellte die brasilianische Regierung ihr 3. Nationales
Programm für Menschenrechte (PNDH-3) vor. Das sieht neben anderen
Punkten die Schaffung einer Arbeitsgruppe vor, die die Verbrechen der
Militärdiktatur (1964-85) untersuchen und aufklären soll.
Ob es letztlich zur Einrichtung einer brasilianischen
Wahrheitskommission kommt, wird der Kongress entscheiden müssen. Selbst
in diesem Falle hinge die Verurteilung der Täter von einer Entscheidung
des Obersten Gerichtshofs ab. Seit mehr als einem Jahr beschäftigt sich
dieser mit einer Klage der Anwaltskammer, die eine Revision des
Amnestiegesetzes von 1979 fordert. Das Gesetz begünstigt zwar einerseits
die Gegner der Diktatur, indem es emigrierten Politikern, Künstlern und
anderen die Rückkehr nach Brasilien ermöglichte, es schützt aber
andererseits auch die Folterer und Mörder vor Strafverfolgung. Die von
humanitären Organisationen unterstützte Klage geht davon aus, dass es
sich bei den damaligen Taten um Verbrechen gegen die Menschlichkeit
handelt, die -- laut internationalen Abkommen, die auch von Brasilien
unterzeichnet wurden -- nicht verjähren und daher verfolgt werden müssen.
Erst kürzlich hatte Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva das
Amnestiegesetz verteidigt, da es geholfen habe, »Hunderte Brasilianer
wieder ins politische Leben einzugliedern und den Weg zur
Redemokratisierung zu ebnen«. Bei der öffentlichen Präsentation des
PNDH-3 erklärte er nun, dass es nicht darum gehen dürfe, die Militärs zu
bestrafen. »Wir müssen unsere Toten in Helden verwandeln, nicht in
Verfolgte, und klarstellen, dass sie nicht mehr da sind, weil sie für
eine bessere Welt gekämpft haben«, sagte Lula. Es gehe deshalb vielmehr
darum, sich bewusst zu machen, was damals geschehen ist und dass sich
der Widerstand gelohnt hat. Schätzungen sprechen von rund 200
»Verschwundenen« und rund 20 000 Gefolterten während der Diktatur. Auch
der heutige Präsident Lula selbst und die beiden
Präsidentschaftskandidaten Dilma Rousseff, die im bewaffneten Widerstand
aktiv war, und José Serra, der ins Exil ging, gehörten zu den Verfolgten.
Wie der für Menschenrechte zuständige Minister Paulo Vannuchi erklärte,
soll die von der Regierung eingesetzte Arbeitsgruppe die Familien der
Opfer anhören und aufklären, was mit den Verfolgten geschehen ist. Als
Ergebnis der Befragungen soll eine öffentlich zugängliche Datenbank
entstehen, die die Verbrechen dokumentiert und dazu beiträgt, dass sich
solche Verbrechen niemals wiederholen. Auch wenn dies sicherlich kein
»idealer« Vorschlag sei, sagte Vannuchi, so sei es zumindest ein
»innerhalb demokratischer Spielregeln« möglicher. Vannuchi machte
zugleich deutlich, dass er für eine umfassende Aufarbeitung der
Verbrechen und für eine Bestrafung der Täter eintrete, seine Position
aber nicht die der gesamten Regierung widerspiegele.
Denn die Aufarbeitung stößt keinesfalls auf ungeteilte Zustimmung. Vor
allem das Verteidigungsministerium widersetzt sich größeren
Untersuchungen über Folterungen oder das »Verschwindenlassen« von
Personen ebenso wie einer Änderung des Amnestiegesetzes. Andere, dem
Militär nahestehende Gruppen befürchten, dass sich die Initiative der
Regierung in ein Instrument des »historischen Revanchismus« verwandelt.
Die Befürworter einer Wahrheitskommission dagegen fordern wirkliche
Aufklärung. Dafür müssten bestimmte Standards eingehalten werden,
forderte die Repräsentantin des Zentrums für Gerechtigkeit und
Internationales Recht (CEJIL) in Brasilien, Beatriz Affonso: »Es muss
Garantien geben, zum Beispiel die, dass die Anhörungen öffentlich sind.«
Zudem müsse die Kommission Zugang zu allen Archiven erhalten, die
Regierung müsse ihr eigene Dokumente zur Verfügung stellen. Denn in
Brasilien existiere eine Kultur der Straflosigkeit; und Straflosigkeit
führe immer zur Wiederholung von Verbrechen. »Und dabei meine ich nicht
nur die Straflosigkeit während der Militärdiktatur.«
* Aus: Neues Deutschland, 23. Dezember 2009
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