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Aufschwung für wenige

Brasilien auf dem Weg zur wirtschaftlichen Weltmacht. Ein Großteil der Bevölkerung hat nichts davon

Von Andreas Knobloch, Sao Paulo *

In Rio de Janeiro werden die Armen samt ihrer Slums eingemauert In Rio de Janeiro werden die Armen samt ihrer Slums eingemauert Brasilien geht es im Moment prächtig. Der allgemeine Börsenindex Bovespa steigt und steigt. Erstmals seit acht Monaten hat er die 51000-Punkte-Marke durchbrochen. Allein in diesem Jahr hat er um 35 Prozent zugelegt; nimmt man den 27. Oktober 2008 zum Maßstab, gar um 72 Prozent. Die brasilianische Währung Real präsentiert sich gegenüber dem US-Dollar so stark wie schon lange nicht mehr.

Dennoch ist es ein zweifelhaftes Verfahren, wirtschaftlichen Aufschwung anhand von Aktienindizes zu messen. Nur ein kleiner Ausschnitt ökonomischer Realität wird abgebildet und in Statistik gegossen. Ausgeblendet wird hingegen, wie eine Gesellschaft produziert und ihren Reichtum verteilt.

In Brasilien passen gegenwärtig allerdings auch die allgemeinen Wirtschaftsdaten zur Börsenstimmung. Wie die Direktorin der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (Cepal), Alicia Bárcena, in der vergangenen Woche verkündete, weise die Wirtschaft »Anzeichen von Erholung« auf. So stiegen die Exporte im April um 14,8 Prozent gegenüber dem Vormonat, und die Handelsbilanz Brasiliens verzeichnete laut Daten des Ministeriums für Entwicklung, Industrie und Handel im selben Monat einen Überschuß von umgerechnet 3,7 Milliarden US-Dollar.

Hierfür sind in erster Linie die Exporte nach China ausschlaggebend. In den ersten vier Monaten des Jahres stieg der Wert der in die Volksrepublik gelieferten brasilianischen Waren auf 6,7 Milliarden US-Dollar, was einem Anstieg um 49,4 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum entspricht. China hat damit erstmals seit den 1930er Jahren die USA als wichtigsten Handelspartner Brasiliens abgelöst. Auch wenn sich das mit der Erholung des US-Marktes wieder ändern kann, zeigt es dennoch einen Trend: Asien im Allgemeinen und China im Besonderen haben in den zurückliegenden Jahren für Brasilien und Südamerika insgesamt an Bedeutung gewonnen, machen den USA zunehmend ihre Vormachtstellung im Handel mit dem Kontinent streitig. So stieg der Export brasilianischer Waren beispielsweise nach Taiwan von März auf April um 100 Prozent, während er in die Vereinigten Staaten um fast 24 Prozent zurückging. Es sind allerdings vor allem Basisprodukte und Rohstoffe, die Brasilien Richtung Asien ausführt.

Die Zahlen lassen im Land den Optimismus wachsen. Ähnlich wie China gilt Brasilien als Wachstumsmarkt und zukünftiger Global Player, weshalb das Land einen weniger starken Investitionsrückgang als viele andere zu verzeichnen hatte. Die Cepal korrigierte bereits ihre Wirtschaftsprognose für das laufende Jahr und geht nur noch von einem Rückgang des brasilianischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 0,5 Prozent aus – viel weniger als noch vor drei Monaten veranschlagt. Im nächsten Jahr wird bereits wieder von einem Wachstum ausgegangen.

Dies gilt auch für die anderen Volkswirtschaften Lateinamerikas. Wie der Internationale Währungsfonds (IWF) kürzlich mitteilte, wird die Rezession infolge der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise hier weit kürzer und weniger hart ausfallen als in den meisten sogenannten Industriestaaten. »Von jetzt an dürfte die Region anfangen, sich zu erholen«, sagte der Direktor des IWF für Lateinamerika, Nicolás Eyzaguirre vergangene Woche. Das liegt zum einen daran, dass Lateinamerika keine Finanz- oder Steuerkrise zu verzeichnen hatte wie beispielsweise die USA, sondern in erster Linie eine Handelskrise. Es gebe bereits positive Signale, wie den Anstieg der Rohstoffpreise, wovon ein großer Teil der Region abhänge.

Doch es mangelt an einer vernünftigen Sozialpolitik. So sind die sozialen Auswirkungen der Krise jeden Tag deutlicher sichtbar. Vor allem wachsende Arbeitslosigkeit und der Anstieg der Lebensmittelpreise bedrücken die einfachen Bevölkerungsschichten. Bei einem großen Teil der Menschen kommt der Aufschwung schlicht nicht an. Brasilien ist weiterhin eines der sozial ungerechtesten Länder weltweit. Zehn Prozent der Bevölkerung teilen mehr als drei Viertel des nationalen Einkommens unter sich auf. Daran ist nicht zuletzt auch das Entwicklungsmodell der Regierung schuld, das vor allem auf Agrarexporte und große Infrastrukturprojekte setzt. »Auch wenn es in den letzten Jahren einige positive Entwicklungen beim erhöhten Zugang zu Bildungsmöglichkeiten, zu den Sozial- und Gesundheitsdiensten sowie zur Sozialversicherung gegeben hat, sind bei der Beseitigung der krassen sozialen Ungleichheiten in Brasilien kaum Fortschritte festzustellen«, erklärt Paulo Cesar Carbonari von der Nationalen Bewegung für Menschenrechte (MNDH). Zudem tragen die restriktive Finanzpolitik und die nur ungenügend umgesetzte Agrarreform zur sozialen Ungleichheit bei. Da helfen auch beste Wirtschaftsprognosen und Börsendaten wenig.

* Aus: junge Welt, 11. Mai 2009


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