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"Es ist eine wichtige Bewegung entstanden"

Die Demonstranten gegen die Fahrpreiserhöhungen in Brasilien haben drei bedeutende Erfolge erzielt. Ein Gespräch mit Lucas Monteiro *


Lucas Monteiro ist Mitinitiator der brasilianischen Proteste gegen die Fahrpreiserhöhung in SãoPaulo und Mitglied der Nulltarif-Bewegung Movimento de Passe Livre, MPL, São Paulo


Sie haben die Demonstrationen gegen die Fahrpreiserhöhungen in Brasilien mit­initiiert, in dessen Folge landesweit Hunderttausende auf die Straße gingen. Was ist unterm Strich dabei herausgekommen?

Die Tariferhöhungen wurden in den meisten Städten zurückgenommen. Das war zunächst ein sehr wichtiger Sieg der Bewegungen und der Bevölkerung, den es seit Jahren nicht mehr gab. Ebenso wichtig aber ist, daß eine Bewegung entstanden ist. Alles schien entpolitisiert, Proteste eine Sache von kleinen Gruppen. Nun haben viele Menschen die Erfahrung gemacht, daß sie durch ihr Engagement und ihre Teilnahme ein größeres Ziel erreichen können. Drittens haben wir ein Paradigma gebrochen. Die Forderung des Nulltarifs wird nicht mehr als Irrsinn abgetan. Viele Städte und Gemeinden haben tatsächlich damit begonnen, den Nulltarif in Betracht zu ziehen.

Die Demonstrationen gegen die Fahrpreiserhöhung nahmen schnell weitere Losungen auf. Es ging um Bildung und Gesundheit, um Korruption und den Bau von Fußballstadien. Was war die Triebkraft dafür?

Das Leben der großen Mehrheit der Bevölkerung hat sich in den letzten zehn Jahren erheblich verbessert. Es gab einen starken wirtschaftlichen Auftrieb. Aber das heißt nicht, daß alle sozialen Probleme gelöst wären. Der Nahverkehr von São Paulo ist einer der teuersten weltweit. Manche Menschen lassen bis zu 30 Prozent ihres Lohnes am Fahrscheinautomat. Der Mindestlohn beträgt nur 678 Reais (rund 240 Euro). Eine einfache Fahrt hingegen sollte nach der Erhöhung 3,20 Reais (1,10 Euro) kosten. Im Monat sind das rund 130 Reais (circa 45 Euro), also ein Fünftel des Lohnes. Bei Anschlußfahrten wird es noch teurer. Das traf viele Leute wie ein Schlag, weil sie die Erhöhung als einen Angriff auf ihr Recht auf Mobilität verstanden haben und auch darüber hinaus auf ihr Recht auf gesellschaftliche Teilhabe.

Wie war die öffentliche Reaktion auf die Protestbewegung?

Die Presse hat ihren Blick auf die Demonstrationen im Verlauf der Proteste erheblich verändert. Zu Anfang war die Berichterstattung der großen Zeitungen und TV-Kanäle sehr reserviert. Dem haben wir über elektronische Netzwerke eine Art Kontra-Information entgegengesetzt. Diese wurde von immer mehr Menschen mitgetragen und »gefüttert«. Schließlich konnten die Etablierten nicht weiter Dinge behaupten, die tausendfach widerlegt waren. Zum anderen wurden Medien selbst zum Ziel von Polizeiübergriffen, und einige Pressevertreter erlitten teils schwere Verletzungen oder wurden festgenommen.

In der überregionalen Tageszeitung Folha de São Paulo vermutet ein Kommentator, daß sich die Mentalität der Brasilianer mit den Protesten bereits verändert habe. Trifft das zu?

Das ist schwierig zu beantworten. Wenn man einen objektiven Erfolg zu verzeichnen hat, einen Kampf gewinnt und die Forderung der Bevölkerung erfüllt wird, dann wächst und öffnet sich auch das Feld für Aktivität und Engagement. Wir von der Bewegung für den Nulltarif werden derzeit von den unterschiedlichsten Sektoren der Gesellschaft zu Debatten und Diskussionen eingeladen, weil wir an gesellschaftlicher Kraft gewonnen haben. Es wächst die Erkenntnis, daß durch Massenmobilisation vielleicht auch andere für die große Mehrheit der Bevölkerung wichtige Forderungen durchgesetzt werden könnten. Damit wir mehr Siege und Erfolge erzielen, um Einfluß darauf zu nehmen, wer in der Gesellschaft Profit und Gewinn erzielt, brauchen wir die Kraft auf der Straße.

Die Nulltarif-Bewegung MPL war auf Einladung zum Gespräch bei Präsidentin Dilma Rousseff. War das ein Versuch der Vereinnahmung oder suchte sie Antworten auf das was im Land geschah?

Ich denke das war ein bißchen von beidem. Das Gespräch war der Versuch zu suggerieren, daß sich die Regierung offen zeigt und einen Dialog anstrebt. Doch es stellte sich heraus, daß die Regierung keine Vorstellung davon hat, woher die Proteste ihre Kraft entwickelten. Die Präsidentin hatte keine Antwort auf unsere Thesen und Forderungen. Sie hat es sogar abgelehnt, Tarifveränderungen auf Bundesebene zu diskutieren.

Seit rund 20 Jahren kam es in Brasilien zu keinen größeren Massenprotesten. Ist der kürzliche enorme Zuspruch und die Beteiligung der Massen an den Protesten Beleg für eine neue politisierte Generation?

Für die große Mehrheit, laut einer Umfrage rund 75 Prozent der Demonstranten, war die Teilnahme an den Protesten der erste Mal im Leben. Das waren keine Leute, die sich bereits engagiert hatten. Aber wie sie sich zukünftig einbringen werden, ist ungewiß.

Interview: Mario Schenk

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 18. Juli 2013


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