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Bildung für die Landreform

Brasiliens Landlosenbewegung MST baut auf das Konzept der »Wanderschulen«

Von Gerhard Dilger, Porto Alegre *

Mit ihren »Wanderschulen« orientiert sich Brasiliens Landlosenbewegung MST an der Lehre von Paulo Freires »Pädagogik der Unterdrückten«. Ein Besuch bei der Wanderschule »Che Guevara« liefert Einblicke.

Es ist eine ungewöhnliche Barrikade. Jener Teil des Landlosencamps, der aufs offene Feld führt, ist mit einer Kette aus spitz zulaufenden, nach außen gerichteten Bambusstämmen gesichert. »Wochenlang sind Hubschrauber über das Lager geflogen und Polizeiwagen auf und ab gefahren«, sagt Altair Morback und deutet auf die Schnellstraße, die bei Nova Santa Rita in den Nordwesten des südbrasilianischen Bundesstaates Rio Grande do Sul führt.

Doch dann wurde die drohende Räumung durch ein Abkommen mit Staatsanwaltschaft und der Behörde für Agrarreform abgewendet. Bis zum Jahresende sollen die gut 200 Familien, die in der Landlosenbewegung MST organisiert sind und seit über drei Jahren bei Nova Santa Rita ausharren, ein eigenes Stück Land bekommen.

Entsprechend gelöst ist die Stimmung im Camp. Vor den Bretterhütten kreisen Kürbiskalabassen mit dampfendem Matetee, über den Dächern aus schwarzen Plastikplanen weht die rote MST-Fahne. Auf einem Hügel liegt die Wanderschule »Che Guevara« – drei runde Klassenräume und eine prall gefüllte Bibliothek, allesamt aus Bambus und Plastikplanen erbaut.

Zehn Mädchen und Jungen im Alter von 9 bis 15 Jahren hören der Lehrerin Andreara Lima de Oliveira zu. Vor ihnen liegt das neue Geographiebuch, es geht um »Raum und Zeit«. Klassischer Frontalunterricht. Oder? »Methodisch und auch inhaltlich unterscheidet sich unser Betrieb gar nicht so sehr von dem der normalen Schulen«, räumt Altair Morback ein, der erfahrenste Lehrer im Camp, der als einziger an einer MST-nahen Fachhochschule ausgebildet wurde. »Viele unserer Erzieherinnen haben selbst nur herkömmliche Methoden erlebt, und wir arbeiten ja auch mit offiziellen Schulbüchern«. Dennoch orientiere man sich an den Lehren des berühmten Pädagogen Paulo Freire. »Trotz großer Einschränkungen wollen wir den Schülern die Instrumente zu ihrer Befreiung an die Hand geben«, betont der blonde Mittdreißiger. »Hier haben wir die Möglichkeit, uns intensiv um die einzelnen Kinder zu kümmern und zusammen mit den Familien zu arbeiten«, ergänzt Andreara Lima, die selbst in MST-Schulen groß geworden ist. »Gegenüber den Verhältnissen in den städtischen Armenvierteln ist das ein enormer Fortschritt.«

Anders nämlich als vor 20 Jahren rekrutiert die MST ihre Leute kaum mehr unter Kleinbauern im Hinterland, die von ihrem Land verdrängt wurden, sondern vor allem in der Peripherie der Ballungsregion Porto Alegre. Viele Familien aus Nova Santa Rita pendeln zwischen Stadt und Land hin und her, der Kinderanteil ist relativ gering, die Fluktuation dagegen hoch. Derzeit besuchen 70 SchülerInnen die erste bis sechste Grundschulklasse. »Wir arbeiten sehr praxisorientiert«, berichtet die Erzieherin Denise Camargo. »Mathematik machen wir im Gemüsegarten, Geografie und Politik auf den Protestmärschen. Unsere Kinder fragen mehr als andere, sie nehmen nicht alles so hin. Unseren Kampf um Land verstehen sie alle.« Wanderschulen heißen die Einrichtungen, weil sie ebenso mobil sind wie die Landlosen selbst – 1996 wurden die ersten legalisiert.

»Gehirnwäsche« und »fehlende Kontrolle« lauten die Begründungen, mit denen die rechte Landesregierung von Rio Grande do Sul ihnen nun den Garaus machen will. Zwölf Wanderschulen gibt es im ganzen Bundesstaat, im Februar wurden sie von einem übereifrigen Staatsanwalt für illegal erklärt. Das Bildungsministerium hat die bescheidene Entlohnung der MST-Lehrerinnen und -Lehrer eingestellt. Stattdessen sollen jetzt die betroffenen Gemeinden für Transport und Beschulung aufkommen.

Eine breite Solidarisierung mit den Landlosen war die Folge, der Staatsanwalt wurde versetzt. »Politisch hat sich die Landesregierung verrechnet, sie müssen uns wieder zulassen«, hofft Morback. »Vor Ort hat sich bislang wenig geändert, unsere letzten Gehälter hatten wir sowieso schon vor vielen Monaten gesehen.« Stattdessen hilft man sich durch Spenden und die spärlichen Bundesmittel – für Präsident Lula da Silva hat die versprochene Agrarreform schon lange keine Priorität mehr.

»Mittlerweile gibt es 30 Wanderschulen in sechs Bundesstaaten«, sagt Isabela Camini, die sie mit aufgebaut und gerade ihren Doktor darüber gemacht hat. In der MST-Zentrale von Porto Alegre bezeichnet die frühere Franziskanernonne die Wanderschulen als »Kontrapunkt zur kapitalistischen Schule, die aber natürlich ebenso ideologisch ist.« Der ungleiche Showdown dürfte dennoch ausbleiben. Die rechte Gouverneurin Yeda Crusius hat alle Hände damit zu tun, die Korruptionsaffären ihrer Regierung unter den Teppich zu kehren, und 2010 wird neu gewählt.



In linken Lehramtsseminaren der BRD führte früher kaum ein Weg an ihm vorbei: Mit seiner »Pädagogik der Unterdrückten« (1970) gelang dem Brasilianer Paulo Freire (1921-1997) ein echter Klassiker der kritischen Erziehungswissenschaft. Ausgehend von einer marxistischen Gesellschaftsanalyse plädiert er für conscientização (Bewusstwerdung oder -machung) durch eine Praxis des Dialogs – innerhalb und außerhalb der Schule. In der DDR wurde Freire fast ausschließlich in progressiven Kirchenkreisen rezipiert.

Auch wenn Freires Schriften vorwiegend in Lateinamerika und Afrika entstanden, wirken sie bis heute auch in den Ländern des Nordens nach. Der Münsteraner Waxmann-Verlag hat kürzlich drei seiner späteren Werke veröffentlicht, unter anderem »Pägagogik der Autonomie«. Sie sind hochaktuell und befruchten die Debatten um Bürgerpartizipation und die Rolle des technologischen Wandels, etwa in der Medienpädagogik. In Brasilien ist Freires Werk an Universitäten und in vielen Basisgruppen lebendig.




* Aus: Neues Deutschland, 10. November 2009


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