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Späte Gerechtigkeit?

Opfer der brasilianischen Militärdiktatur verlangen Bestrafung der Täter

Von Andreas Knobloch *

Vor dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte (CIDH) in San José, Costa Rica, hat in der vergangenen Woche ein Verfahren über das »Verschwindenlassen« von Oppositionellen während der brasilianischen Militärdiktatur (1964-1985) begonnen. Nach dem Willen der klagenden brasilianischen Opfervereinigungen soll das Gericht feststellen, daß es sich bei den begangenen Menschenrechtsverletzungen um Verbrechen gegen die Menschlichkeit gehandelt habe, die nach auch von Brasilien unterzeichneten internationalen Abkommen nicht verjähren oder Teil von Amnestiegesetzen sein können und deshalb bestraft werden müssen. Ein Urteil wird innerhalb der nächsten vier Monate erwartet.

In dem konkreten Fall geht es um Operationen der brasilianischen Armee gegen die Guerilla von Araguaia zwischen 1972 und 1975. Von siebzig Personen fehlt seitdem jede Spur. Bei von den Familienangehörigen angestrengten Untersuchungen wurden lediglich die sterblichen Überreste von vier Opfern entdeckt.

Die Guerilla bestand hauptsächlich aus Universitätsstudenten und galt als der bewaffnete Arm der Kommunistischen Partei Brasiliens (PCdoB). Sie kämpfte vor allem in der Gegend des Araguaia-Flusses im nordbrasilianischen Bundesstaat Pará gegen die Diktatur und für eine sozialistische Revolution. Ab 1972 setzte die Junta bis zu 5000 Soldaten ein, um die Guerilla zu bekämpfen, die Quellen zufolge nie mehr als hundert aktive Kämpfer zählte.

Insgesamt gehen Schätzungen von etwa 200 »Verschwundenen« und 20000 Gefolterten während der Militärdiktatur aus. Auch der heutige Präsident Luiz Inácio »Lula« da Silva selbst sowie die beiden Präsidentschaftskandidaten Dilma Rousseff, die im bewaffneten Widerstand aktiv war, und José Serra, der ins Exil ging, wurden von den damaligen Militärmachthabern verfolgt.

Im Jahr 2003 ordnete ein brasilianisches Gericht Untersuchungen an, um das Schicksal der Verschwundenen zu klären. Unter anderem forderten die Richter die Regierung auf, die Militärarchive zu öffnen. Aufgrund von Einsprüchen der Staatsanwaltschaft trat das Urteil jedoch erst 2007 in Kraft und wurde bis heute nicht umgesetzt. Auch die Bildung einer Suchkommission im vergangenen Jahr blieb bislang ohne befriedigendes Ergebnis.

In Brasilien wurden die für Folter und Morde Verantwortlichen der Militärregierungen nie vor Gericht gestellt. Zwar sieht ein Ende letzten Jahres beschlossenes Nationales Programm für Menschenrechte die Bildung einer Wahrheitskommission zur Aufarbeitung der Verbrechen der Militärdiktatur vor, doch gerade aus den Streitkräften gibt es dagegen erhebliche Widerstände. Erst am 29. April lehnte der Oberste Gerichtshof (STF) eine Überprüfung des Amnestiegesetzes aus dem Jahr 1979 ab. Dieses erlaubte zwar exilierten Politikern, Künstlern und anderen die Rückkehr nach Brasilien, schützte aber auch die Folterer und Mörder von damals vor Strafverfolgung.

Die Haltung der brasilianischen Regierung zu dieser Frage ist widersprüchlich. Während sich der im Februar dieses Jahres aus dem Amt geschiedene Justizminister Tarso Genro für eine Strafverfolgung aussprach, ist der gegenwärtige Verteidigungsminister Nelson Jobim dagegen. Auch Brasiliens Präsident verteidigte das Amnestiegesetz. Es habe geholfen, »Hunderte Brasilianer wieder ins politische Leben einzugliedern und den Weg zur Redemokratisierung zu ebnen«.

* Aus: junge Welt, 25. Mai 2010


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