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Brasilien ringt mit seiner Vergangenheit

Der Fall des Kommunisten Drumond wirft ein Licht auf die mangelnde Aufarbeitung der Diktaturverbrechen

Von Andreas Knobloch *

Im Gegensatz zu Chile, Argentinien oder Uruguay wurden in Brasilien die für Folter und Morde verantwortlichen Schergen der Militärdiktatur nie vor Gericht gestellt. Derzeit erregt der Fall des Kommunisten João Batista Franco Drumond Aufsehen. Seine Familie fordert von den Behörden das offizielle Eingeständnis, dass er in der Haft an Folgen der Folter starb.

Die offizielle Version glaubt in Brasilien so gut wie niemand: Danach starb João Batista Franco Drumond am 16. Dezember 1976 nach der Flucht aus einem Gefängnis bei einem Verkehrsunfall. Auf juristischem Wege versucht die Familie des früheren Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Brasiliens (PCdoB), die von den damals herrschenden Militärs verbreitete Todesursache »ändern« zu lassen.

Die Episode um Drumonds Tod - außer ihm wurden zwei weitere Führer der PCdoB umgebracht: Pedro Pomar und Ângelo Arroyo - ist auch als Blutbad von Lapa (Chacina da Lapa) bekannt. So heißt der Stadtteil São Paulos, wo die Polizei zuvor in einem Haus eine Sitzung der Kommunistischen Partei gestürmt hatte.

Fünf frühere Mitstreiter Drumonds, die mit ihm zusammen inhaftiert waren, hatten dieser Tage ausgesagt und die These der Militärs als Farce entlarvt. Einer von ihnen, der frühere Kongressabgeordnete Aldo Arantes, berichtete: »Nackt und mit einer Kapuze über dem Kopf wurde ich in einem Raum aufgehängt und gefoltert. Plötzlich hörte die Folter auf, ich wurde in einen anderen Raum gebracht, wo man mich mit den Füßen ans Bett schnallte und ich lauten Lärm einer polemischen Auseinandersetzung hörte. Soweit ich verstanden habe, ging es bei der Auseinandersetzung darum, was mit der Leiche nach der Ermordung Drumonds geschehen solle.« Ähnliche Aussagen machten Wladimir Pomar, Harolde Lima, Paulo Abrão und Nilmário Miranda, allesamt später Parteigrößen oder Bundesabgeordnete.

Drumonds Witwe, die Psychologin Maria Ester Cristeli Drumond, will eine entsprechende Korrektur des Obduktionsberichts erstreiten. »Die Familie möchte, dass die Wahrheit offiziell wieder hergestellt wird«, erklärte der Anwalt Egmar José de Oliveira.

Paulo Abrão, heute Präsident der Amnestiekommission, wies im Anschluss an seine Anhörung der Justiz eine entscheidende Rolle bei der Wiederherstellung der Wahrheit über die Militärdiktatur (1964-1985) zu. »Dieser Fall ist ein gutes Beispiel dafür, dass, unabhängig von strafrechtlichen Konsequenzen, die Judikative zusammen mit der Exekutive und der Legislative ebenfalls Verantwortung trägt für die Anerkennung und die Herstellung des Rechts auf Wahrheit.« Sie helfe so, die Arbeit der Wahrheitskommission zu ergänzen, sagte Abrão.

Die Einrichtung der Wahrheitskommission hatte Ende 2011 letzte legislative Hürden genommen. Die Kommission soll Menschenrechtsverletzungen zwischen 1946 und 1988 aufklären; das Hauptaugenmerk aber wird auf den Verbrechen der Militärdiktatur liegen. Nach zwei Jahren soll sie ihren Bericht vorlegen.

Die Wahrheitskommission erhält jedoch keinerlei Instrumente zur Strafverfolgung. Zudem bleibt nach der jetzigen Einigung das seit 1979 geltende Amnestiegesetz unberührt. Im Gegensatz zu Chile, Argentinien oder Uruguay wurden in Brasilien die für Folter und Morde Verantwortlichen der Militärregierungen deshalb nie vor Gericht gestellt. Diese Regelung haben weder Altpräsident Luiz Inácio »Lula« da Silva noch seine Nachfolgerin, Dilma Rousseff, die beide während der Diktatur verfolgt wurden, angetastet. Wohl um die Armee nicht gegen sich aufzubringen und alte Wunden nicht wieder aufzureißen.

Erst vor drei Wochen wies ein Gericht die erste Anklage gegen einen früheren Militär, Oberst Sebastião Curió Rodrigues de Moura, der an Verbrechen während der Militärdiktatur beteiligt gewesen sein soll, zurück. Weder Amnestiegesetz noch Wahrheitskommission erlaubten eine Strafverfolgung, befand das Gericht. Dies dürfte zu neuen Diskussionen führen.

Der Schaffung der Wahrheitskommission waren jahrelange, zum Teil polemische Auseinandersetzungen vorausgegangen. Vor allem das Militär hatte sich bis zuletzt gegen die Einsetzung einer solchen Kommission gesträubt. Schätzungen gehen von rund 200 »Verschwundenen« und 20 000 Gefolterten während der Militärdiktatur aus.

Derweil haben Demonstranten Ende März in mehreren brasilianischen Großstädten erstmals mutmaßliche Folterer aus der Zeit der Militärdiktatur bloßgestellt und deren Taten in ihrer Nachbarschaft öffentlich gemacht. In São Paulo entlarvten sie David dos Santos Araújo, der während der Diktatur in dem berüchtigten Folterzentrum DOI-Codi arbeitete. Eben dort war João Batista Franco Drumond im Dezember 1976 ermordet worden.

* Aus: neues deutschland, 10. April 2012


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