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Run aufs Rathaus

Kommunalwahlen in Brasilien: Solides Abschneiden der Regierungsparteien. In elf Metropolen kommt es zur Stichwahl

Von Peter Steiniger, Brasília *

Überraschungen bei den Ergebnissen der landesweiten Kommunalwahlen am Sonntag in Brasilien: In São Paulo, bedeutendstes Wirtschafts- und Finanzzentrum Lateinamerikas, schnitt Amtsinhaber Gilberto Kassab von den rechtsliberalen Democratas (DEM) mit 33,6 Prozent am besten ab. Er ließ damit die in allen Umfragen klar favorisierte Marta Suplicy von der Arbeiterpartei (PT) knapp hinter sich, die 32,8 Prozent erhielt. Die Entscheidung um den Posten des Bürgermeisters fällt nun in einer Stichwahl am 26. Oktober. Kassab wird vom sozialdemokratischen Gouverneur des Bundesstaates São Paulo, José Serra, protegiert. Der PSDB-Politiker benötigt die Unterstützung der DEM für eine Präsidentschaftskandidatur 2010.

Zum Votum waren fast 129 Millionen Wahlberechtigte aufgerufen. In Brasilien herrscht Wahlpflicht, die Stimmabgabe erfolgt elektronisch. Alle Bewerber um Ämter in den 5563 Kommunen waren gesetzlich verpflichtet, ihr Strafregister, ihre Einkommensverhältnisse und die Wahlkampfkosten offenzulegen.

In Rio de Janeiro gelang dem Grünen Fernando Gabeira sensationell mit 26,8 Prozent der Einzug in die finale Runde. Er schlug dabei Marcelo Crivella (19 Prozent) von der Republikanischen Partei (PRB), die mit der evangelikalen Pfingstbewegung verbandelt ist, aus dem Feld. Auch die Kommunistin Jandira Feghali (PCdoB) verfehlte mit 9,8 Prozent den Einzug in die zweite Runde. Gabeira steht für alles, wofür der Gospelsänger und Prediger Crivella nicht steht: etwa die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen und Marihuana-Gebrauch oder den Kampf gegen die Diskriminierung Homosexueller. Auf den nächsten Rathauschef der »Cidade maravilhosa« warten immense Herausforderungen. Dazu zählen Kriminalität und Verslumung, Verkehrsinfarkt und akute Probleme im Gesundheits- und Bildungswesen. Der Altlinke Gabeira hatte 1969 als Mitglied der Bewegung MR-8 an der Entführung des US-Botschafters Charles Elbrick zur erfolgreichen Freipressung politischer Gefangener mitgewirkt. Das gute Abschneiden des Schriftstellers und kulturellen Provokateurs ist ein deutliches Zeichen vieler Wähler gegen das politische Establishment. In der Stichwahl trifft er auf Eduardo Paes von der bürgerlich-populistischen PMDB, der 32 Prozent auf seine Liste vereinen konnte.

Während in São Paulo 12000 Polizisten die Wahl überwachten, waren die Sicherheitsvorkehrungen im Staat Rio de Janeiro noch umfangreicher. Neben 27000 Angehörigen der Polícia Militar beteiligten sich an der »Operation Guanabara« auch 5600 Soldaten des Heeres und der Marine. Sie sollten in den Vierteln der Favelas von Rio de Janeiro und Campos, wo das organisierte Verbrechen und »milicianos« das faktische Gewaltmonopol innehaben, den ungehinderten Zugang zu den Wahllokalen ermöglichen. Als weiteres Ziel nannten die Behörden die Verhinderung von Wählerbeeinflussung »an der Urne« und Stimmenkauf. Etliche Stadträte (Vereadores) stehen im Verdacht, im Sold der Drogenbanden und der nicht weniger kriminellen paramilitärischen Slummilizen (denen viele Militärpolizisten angehören) zu stehen.

Die Arbeiterpartei wurde auf Anhieb in sechs Hauptstädten von Bundesstaaten – darunter Recife, Fortaleza und Vitória – wieder mit den Rathausschlüsseln betraut. In Bahia und Salvador gelang der PT der Einzug in die Stichwahl. Mit mehr als 1000 gehen landesweit die meisten Kommunen wieder an die PMDB. Die PT konnte die Zahl der von ihr geführten Rathäuser von 400 auf etwa 500 ausbauen.

In São Bernardo do Campo, nahe São Paulo, bleibt Luiz Marinho die zweite Runde nicht erspart. Präsident Luiz Inácio »Lula« da Silva hatte sich dort zuletzt noch persönlich am Wahlkampf beteiligt, um dem PT-Kandidaten über die Ziellinie zu helfen. Die Stadt gehört zum sogenannten Industrieviereck ABCD, der Wiege der PT. In den siebziger Jahren wirkte Lula hier als Metallarbeiterführer. Ob das Kalkül doch noch aufgeht, wird erst die Stichwahl zeigen. In zehn weiteren Hauptstädten werden dafür nun die Karten neu gemischt. Bis zum 26. Oktober gilt es, die Wähler ausgeschiedener Kandidaten auf die eine oder die andere Seite zu ziehen.

* Aus: junge Welt, 7. Oktober 2008


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