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Korruption verurteilt

Brasilianisches Gericht verhängt im »Mensalão«-Prozeß Haftstrafen

Von Benjamin Beutler *

Der diesjährige »Tag der Republik« dürfte in Brasilien besonders in Erinnerung bleiben. Mit in die Luft gereckter Faust trat José Dirceu, einstiger Kabinettschef von Expräsident Luiz Inácio Lula da Silva, am vergangenen Freitag seine Haftstrafe an. »Es lebe die Arbeiterpartei«, hatte kurz zuvor José Genoíno, Exchef der sozialdemokratischen Arbeiterpartei (PT), skandiert und sich in Sao Paulo den Behörden gestellt. In einem »Jahrhundertprozeß« waren zuvor mehrere ehemalige Regierungsfunktionäre wegen Korruption zu hohen Haftstrafen verurteilt worden. Elf der 26 Angeklagten, allesamt Mitglieder der PT, hatte der Oberste Gerichtshof in Brasilia für die Einrichtung und Ausführung des als »Mensalão« bekannt gewordenen Bestechungs­-sy­stems verantwortlich gemacht.

2005 war nach Recherchen des Nachrichtenmagazins Veja der Verdacht aufgekommen, daß Abgeordnete der Opposition mit monatlichen Überweisungen von je 12000 Dollar gefügig gemacht wurden. Im Gegenzug stimmten die Hinterbänkler für Gesetzentwürfe der Regierung. Endgültig ans Licht kam der Skandal nach einem Interview mit dem damaligen PT-Abgeordneten Roberto Jefferson. In der Tageszeitung Folha do S. Paulo sprach dieser im selben Jahr erstmals vom »Mensalão«, einer »hohen monatlichen Zahlung« an Abgeordnete. Als da Silva davon erfuhr, soll Brasiliens bis heute beliebtester Politiker aller Zeiten vor Entsetzen geweint haben.

»Das Wort Republik kommt aus dem Lateinischen und bedeutet öffentliche Sache«, gab das amtierende Staatsoberhaupt Dilma Rousseff (PT) nun nach dem Schuldspruch in einer Twitter-Mitteilung die rechtschaffende Landesmutter. Präsidentin der Republik zu sein, sei der verfassungsgemäße Auftrag, »über die öffentliche Sache zu wachen und diese zu schützen, das Allgemeingut zu bewahren, Korrup­tion vorzubeugen und zu verhindern«, so Rousseff formal. Expräsident da Silva gab sich bedeckt. Natürlich werde er das Urteil respektieren, nicht aber kommentieren.

Die Tücke des Richterspruchs liegt im Detail. Für sieben Jahre und elf Monate müßte José Dirceu eigentlich hinter Gitter. Doch könnte der arrivierte Guerillero gegen die Militärjunta von einer Besonderheit des Strafrechts profitieren. Weil die Haftstrafe unter acht Jahren liegt, darf Dirceu sie im halboffenen Vollzug verbüßen, nur nachts müßte er hinter Gitter. Schon empört sich die Öffentlichkeit über die »Luxushaft«. Allerdings steht eine Verurteilung wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung noch aus, weitere Haftjahre könnten hinzukommen. Gemeinsam mit den ebenfalls verurteilten Genoíno und Exschatzmeister Delubio Solares droht Dirceu dann doch die Vollzeit-Inhaftierung. Der jüngst von Rousseff ernannte Oberste Richter Luís Roberto Barroso übte dennoch bereits deutliche Kritik. »Wir haben Tausende Verurteilte im Gefängnis, wegen Besitzes kleiner Mengen von Marihuana, aber nur wenige wegen großer Vergehen«, so Barroso. »Um in Brasilien ins Gefängnis zu gehen«, müsse man »arm sein und eine schlechte Verteidigung haben«. Das »aktuelle System« sei »ein selektives Klassensystem« und »fast kastenartig«.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 20. November 2013


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