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Bodenlos ungerecht

Brasilien: Brutaler Polizeieinsatz gegen Landbesetzer. Schleppende Agrarreform

Von Andreas Behn (npl), Rio de Janeiro *

Diesmal traf es Landlose im zentralbrasilianischen Bundesstaat Goiás. Am vergangenen Freitag stürmten früh morgens an die hundert Polizisten ein gerade erst errichtetes Barackenlager, schossen in die Luft und kesselten die 600 Fami­lien ein. Obwohl niemand Widerstand leistete, gingen die Beamten äußerst brutal vor, trennten zuerst Männer und Frauen, um schließlich einige Männer, die sie als »Rädelsführer« ausmachten, zu schlagen und zu fesseln.

Erst als Stunden später Vertreter der lokalen Behörden und Menschenrechtler eintrafen, ließ sich die Polizeiführung auf Verhandlungen ein. Nur wenige der Landlosen hatten aus dem Kessel fliehen können, um die Presse und Genossen der Landlosenbewegung MST (Movimento dos Trabalhadores Sem Terra) zu alarmieren. »Die Situation ist sehr angespannt, und die Landarbeiter sind vollkommen eingeschüchtert«, erklärte die MST-Sprecherin Lucinéia Medeiros nach Gesprächen mit Augenzeugen.

Erst vor kurzem waren die 600 Familien zur Finca Sete Rios gezogen, nachdem sie aus Angst vor Repressalien eine andere Landbesetzung rund 20 Kilometer entfernt aufgegeben hatten. Beide Ländereien liegen seit Jahren brach und werden nicht mehr landwirtschaftlich genutzt. Doch obwohl die Agrarreform-Behörde Incra bereits die Enteignung eingeleitet hat, kommt der Prozeß nicht voran, der den Landlosen eine Existenzchance bieten würde.

Statt dessen kam es Ende vergangener Woche zur Räumung – ohne Anlaß. Nach Angaben der Polizei hätten die Landlosen bei ihrer vorherigen Besetzungsaktion geplündert. »Ein willkürliches Vorgehen«, bescheinigte Medeiros von der MST ihnen daraufhin. »Das ist doch nichts weiter als ein Vorwand, um die illegale Räumung zu rechtfertigen.« Nach ihrer Freilassung wollen die Landlosen nun in der Hoffnung weiterziehen, ein Stück Land zu finden, auf dem sie vor der Gewalt des Staates und der Grundbesitzer geschützt sind. Sie sind nur eine einzelne Gruppe inmitten Hunderter Zusammenschlüsse, die sich in ganz Brasilien dafür einsetzen, die schleppende Landreform voranzubringen. Immer wieder kommt es dabei zu gewaltsamen Räumungen und zu Todesfällen. Aber der MST oder anderen in Landlosen-Bewegungen organisierten Bauern gelingt es auch immer wieder, Land zu besetzen und Siedlungen zu bauen.

Brasilien ist nach wie vor eines der Ländern mit der ungerechtesten Landverteilung weltweit. Knapp zehn Prozent der Grundbesitzer verfügen über mehr als 80 Prozent des Landes. Gleichzeitig besitzen knapp fünf Millionen Familien kein eigenes Land. Mittlerweile haben an die 250000 Familien sich durch Landbesetzungen und deren Umwandlung in legale Siedlungen eine Existenzgrundlage schaffen können.

Die Hoffnung, daß sich die Agrarreform unter der Präsidentschaft des Exgewerkschafters Luiz Inácio »Lula« da Silva beschleunigen würde, hat sich bislang nicht erfüllt. Im Gegenteil: In seinen ersten vier Amtsjahren nahm die Zahl der Ansiedlungen nicht einmal zu. Auch zu Beginn von Lulas zweiter Amtszeit gibt es kaum Grund für Optimismus für die Aktivisten. Die Mittel, die der Agrarreform in diesem Jahr zur Verfügung stehen, stiegen gerade mal um 0,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Trotz der politischen Nähe zwischen Lulas Arbeiterpartei und dem MST kündigten die Aktivisten daher bereits an, den Druck zu erhöhen.

* Aus: junge Welt, 31.01.2007


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