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Landlose suchen Überlebensperspektive

5. Kongress der brasilianischen Landlosenbewegung MST in Brasília / Agrarreform, soziale Gerechtigkeit und Souveränität stehen im Mittelpunkt

Von Andreas Behn, Brasilia *

Die Umsetzung der Agrarreform unter der Regierung Lula sowie die Zukunftstrategien angesichts einer globalisierten Landwirtschaft stehen im Mittelpunkt des 5. Kongresses der brasilianischen Landlosenbewegung MST. Von 11. bis 15. Juni treffen sich über 17 000 Delegierte aus 24 Bundesstaaten in der Hauptstadt Brasilia. Es wird das bislang größte Treffen der brasilianischen Landlosenbewegung MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra) werden.

»Bei dem Kongress geht es darum, den inneren Zusammenhalt der Bewegung zu stärken. Es ist ein einmaliger Moment für Diskussionen, Studien und Entscheidungen«, sagt Gilmar Mauro, Mitglied der Nationalen Koordination der MST. Vergangene Woche hatte Mauro die Landlosen noch bei den Protesten gegen den G8-Gipfel in Rostock repräsentiert.

Laut den Organisatoren wird der Kongress zugleich ein großes Fest sein, um die Erfolge der Bewegung, die mittlerweile seit 23 Jahren existiert, zu feiern. Die Aktivisten und internationalen Gäste, die rund um den Tagungsort – die Schule Nilson Nelson - campieren werden, kommen zumeist aus den über das ganze Land verteilten Ansiedlungen und Besetzungen, mit denen die MST den Kampf für eine gerechte Landverteilung vorantreibt. Momentan leben 230 000 Familien in solchen Lagern. Von ihnen sind 140 000 Familien in der MST organisiert.

Das Programm des Treffens, das alle fünf Jahre stattfindet, sieht neben einer zentralen Demonstration am Donnerstagnachmittag mehrere Plena vor, auf denen Aktivisten sowie Wissenschaftler aus dem Ausland und bekannte Größen der Landlosenbewegung wie João Pedro Stedile sprechen werden. Die Themen reichen von Konjunkturanalysen über die Frage der Ernährungssouveränität bis hin zu »sozialistischen und humanitären Werten«.

Das Motto des Treffens lautet »Agrarreform: Für soziale Gerechtigkeit und die Souveränität des Volkes«. Nach wie vor steht also die ungerechte Landverteilung im Mittelpunkt. Zugleich ist dieses Motto Beleg dafür, das sich die MST – die mit Abstand größte organisierte soziale Bewegung Brasiliens und eine der wichtigsten Lateinamerikas – den neuen Herausforderungen stellt und sich eine Lösung der Agrarfrage nur im Kontext der gesamten Gesellschaft vorstellen kann.

Als wichtigste Veränderung identifiziert die MST die zunehmende Ausweitung des transnationalen Agrarbusiness. Folge davon sind die Zunahme der ökologisch verheerenden Monokulturen, die Vertreibung der ansässigen Landbevölkerung sowie das Verschwinden von Arbeitsplätzen in der Landwirtschaft. Zugleich wird die Kontrolle durch ausländisches Kapital und die Exportorientierung dieses Sektors als Gefahr für die Souveränität, insbesondere was die Lebensmittelsicherheit betrifft, interpretiert.

Schon seit langem sieht sich die MST nicht lediglich als Protestbewegung, sondern als Organisation, die für konkrete Alternativen steht. Dies nicht nur bezüglich der Tausenden Menschen, denen in Besetzungen und Ansiedlungen neue Überlebensperspektiven geschaffen werden. Die Landlosen plädieren generell für eine nachhaltige Landwirtschaft, bei der die Produktion in kleinen und mittleren Betrieben für den Binnenmarkt im Mittelpunkt steht und die sich generell ökologischen Methoden verpflichtet. Dies beinhalten die Ablehnung hochtechnisierter Landwirtschaft wie auch der Anwendung von Gentechnologie.

Dieser Ansatz erklärt auch, warum der MST wie auch die internationale Bewegung Via Campesina sich kritisch in die neue Debatte um Agrokraftstoffe einschalten. Gerade Brasilien sieht sich bei der Produktion von Ethanol auf pflanzlicher Basis in einer Vorreiterrolle und verspricht sich davon ein langfristiges Wirtschaftswachstum. Die Kritiker halten diesen Weg hingegen keineswegs für nachhaltig und schon gar nicht »biologisch«. Zum einen fördere die Produktion von Agrokraftstoffen die Monokulturen und schaffe nur wenige, zumeist extrem unterbezahlte Arbeitsplätze, während die Gewinne ausschließlich in die Kassen der Großunternehmen wanderten. Zum anderen steige die Gefahr neuer Vertreibungen, bei gleichzeitiger Vernachlässigung der Nahrungsmittelproduktion.

Nicht nur an diesem Punkt sind sich die MST und die Regierung unter dem Ex-Gewerkschafter Luiz Inácio Lula da Silva uneins. Dessen Arbeiterpartei PT und die MST waren lange Zeit Bündnispartner beim Aufbau der brasilianischen Linken nach der Militärdiktatur. Auch heute noch sind beide eng miteinander verbunden, sowohl personell wie programmatisch. Doch während sich Lula um das politisch Machbare bemüht und im Namen des Wirtschaftswachstums die Nähe zur mächtigen Agraroligarchie sucht, setzt die MST nach wie vor auf den aktiven Kampf gegen Landkonzentration und Profitmaximierung. Der Balanceakt, den das Verhältnis der MST zur PT-Regierung seit deren Machtübernahme im Jahr 2002 ausmacht, wird auch Thema dieses Kongresses sein. Harte Diskussionen sind programmiert.

Chronik - Geschichte der MST-Kongresse

Der erste Kongress der brasilianischen Landlosenbewegung MST fand 1985, ein Jahr nach Gründung der Organisation, statt. Noch waren die Militärs an der Macht, doch das Ende der Diktatur war absehbar. Die von den Militärs eingeleitete Modernisierung der Landwirtschaft hatte nichts an der ungerechten Landverteilung geändert. Es war das Jahrzehnt, in dem neben der MST andere wichtige Pfeiler die Linken Brasiliens entstanden wie die Arbeiterpartei PT und der Gewerkschaftsdachverband CUT. Mit tatkräftiger Unterstützung der katholischen Landpastoralen (CPT) nahm die MST den Kampf für eine Agrarreform auf.

Der zweite MST-Kongress fand 1990 statt, unter dem später wegen Korruption geschassten Präsidenten Fernando Collor. Die Landlosen wie andere soziale Bewegungen waren brutaler Repression ausgesetzt. Der MST hatte sich bereits in allen Landesteilen etabliert und die Besetzung von unproduktiven Ländereien war zum wichtigsten Kampfinstrument geworden. Angesichts des beschränkten Handlungsspielraums konzentrierte sich die MST auf die Stärkung der internen Organisation und die Erlangung finanzieller Unabhängigkeit.

1995 und 2000, jeweils unter der neoliberalen Regierung des einst linken Soziologen Fernando Henrique Cardoso, war die MST bereits eine feste Größe im Land. Abwechselnd errang sie mal Zugeständnisse von der Regierung, mal sah sie sich wieder Unterdrückung ausgesetzt. Es gelingt, Tausende Landlose auf brachliegenden Ländereien anzusiedeln, während immer wieder Aktivisten der Bewegung von den Schergen der Großgrundbesitzer ermordet werden.

2005 erschütterte ein Korruptionsskandal in der PT die Linke derart, dass die MST ihren Kongress verschob, wie auch 2006, als die Präsidentschaftswahl und die Wiederwahl Lulas anstand – auf jetzt.

bob

Konzept der Aneignung

Brasilien ist eines der Länder mit der ungerechtesten Landverteilung weltweit. Die Landbevölkerung hat kaum Mittel, sich gegen Großgrundbesitzer und Agrarunternehmen zu wehren, weswegen es immer weniger Kleinbauern und immer mehr Landlose gibt.

Angesichts dieser Lage hat sich der MST die Aufgabe gestellt, die Landlosen zu organisieren, damit sie brachliegendes oder unzureichend genutztes Land besetzen und sich dort ansiedeln. Dies geschieht zumeist in Einklang mit dem Geist der Verfassung, die die produktive Nutzung des Bodens vorschreibt.

So entstehen zuerst die acampamentos, noch nicht legalisierte Camps, die dazu dienen, das Land urbar zu machen und politisch das Anrecht auf das Land durchzusetzen. Diese acampamentos werden schließlich in Zusammenarbeit mit der staatlichen Behörde für Agrarreform (Incra) in assentamentos umgewandelt, legalisierte Besetzung und Keimzellen neuer Siedlungen.

Dieser sichtbare Teil der Aktivitäten wird von einem immensen Aufwand im Bereich Organisation, Konzeption und juristischer Arbeit begleitet. Die zu besetzenden Ländereien müssen zuerst gut recherchiert werden. Dann muss deren Enteignung juristisch vorangetrieben werden. Gleichzeitig müssen die Menschen für die Besetzungen mobilisiert und ausgebildet werden.

Und nach einer erfolgreichen Besetzung geht es darum, das Zusammenleben unter höchst prekären Bedingungen und in ungewohnt kollektiven Strukturen zu gewährleisten. So herrschen in allen MST-Camps bestimmte Regeln, die den Umgang mit Alkoholkonsum, sexueller Belästigung und anderen Streitigkeiten klären. Demokratie und basisorientierte Mitbestimmung wird dabei großgeschrieben. Zugleich wird kein Hehl daraus gemacht, dass der MST recht hierarchische Strukturen aufweist, was mit dem großen organisatorischen Aufwand und den ständigen Anfeindungen und Kriminalisierungen von außen begründet wird.

bob



* Aus: Neues Deutschland, 11. Juni 2007


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