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Landlose fordern echte Agrarreform

Kritik an Lula-Regierung auf dem 5. Kongress der Landlosenbewegung MST in Brasília

Von Andreas Behn, Brasília *

Die Landreform ist aus Sicht der brasilianischen Regierung Lula ein Kernstück ihrer Politik und eine Erfolgsstory gleichermaßen. Auf dem fünften Kongress der brasilianischen Landlosenbewegung MST wird diese Sicht nicht geteilt.

Von 11. bis 15. Juni treffen sich fast 20 000 Delegierte aus 24 Bundesstaaten in der Hauptstadt Brasilia. Es ist das bislang größte Treffen der brasilianischen Landlosenbewegung MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra). Eigentlich steht die MST der Partei des Präsidenten Lula, der Arbeitspartei PT, traditionell nahe, doch mit der Regierungspolitik ist sie bisher nicht zufrieden.

»Es reicht nicht mehr aus, den Landlosen ein Stück Land zu geben. Sie haben weder die Mittel zur Produktion, noch können sie auf dem Markt verkaufen«, sagte João Pedro Stedile, Mitglied der nationalen Leitung der MST. Auf einer Pressekonferenz am Dienstagnachmittag machte Stedile den Neoliberalismus für die Schwierigkeiten in der Landwirtschaft verantwortlich. In Brasilien habe das Agrobusiness, das der Aktivist als Hochzeit von internationalem Kapital und Großgrundbesitz bezeichnete, alles unter Kontrolle. »Die Unternehmen definieren die Technologie und kontrollieren den Markt.« Wer da nicht mitmacht, habe keine Chance. Deswegen habe das Agrobusiness für die verarmte Landbevölkerung nur eine Lösung parat: »Die Migration in die Favelas der Großstädte«.

Die MST befindet sich seit gut zwei Jahren im Prozess der Neubestimmung ihrer politischen Forderungen, die jetzt, auf dem 5. Kongress von den Teilnehmern gemeinsam diskutiert und beschlossen werden sollen. Dabei steht das Konzept der Landbesetzung dort, wo große Landflächen ungenutzt bleiben, nicht zur Disposition. Doch die Bewegung ist sich bewusst, dass der politische Sachverhalt komplexer geworden ist. Zum einen sei klar, dass es im Rahmen einer neoliberalen Wirtschaftspolitik überhaupt keine Agrarreform geben kann, versichert Stedile. Andererseits müsse man neue Allianzen eingehen und neue Prioritäten setzen. »Dieses neue Modell enthält eine ökologische Ausrichtung der Produktion, stellt den Anbau von Lebensmitteln für den inländischen Markt in den Vordergrund, setzt auf mehr Bildung und auf kollektives Wirtschaften.«

Marina dos Santos, ebenfalls Mitglied der MST-Führung, sagte auf der Eröffnungsveranstaltung am Montagabend, dass die Solidarität eines der wichtigsten Attribute der Landlosenbewegung sei. »Wir sind hier auf einem der größten Treffen von Bauern und Landarbeitern, das es je in der Welt gegeben hat, nicht nur was die Anzahl der Teilnehmer, sondern insbesondere was die Qualität ihrer Errungenschaften in 23 Jahren des politischen Kampfes angeht.«

Die Stimmung ist gut unter den Aktivisten, die die Tage auch zu einem intensiven Austausch untereinander nutzen. Rund um den Veranstaltungsort in der Hauptstadt Brasília ist eine riesige Zeltstadt entstanden, laut den Veranstaltern wurden 31 000 Quadratmeter Plane zu Zelten verarbeitet. Rund 400 Erzieher betreuen über 1500 Kinder, 70 Ärzte kümmern sich um das Wohlbefinden.

Bis zum Freitag (15. Juni) werden die Debatten andauern, an denen auch diverse ausländische Delegationen teilnehmen. In erster Linie Gesandte von Via Campesina, dem internationalen Dachverband der Bauernbewegung, die aus vier Kontinenten angereist sind. Anwesend sind außerdem viele ausländische Stiftungen und Netzwerke, sowie Repräsentanten fast aller namhaften Organisationen der Linken Brasiliens, von politischen Parteien, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen.

* Aus: Neues Deutschland, 14. Juni 2007


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