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Mafiakrieg in São Paulo

Brasilianische Polizei will mit neuer Strategie kriminelle Bande PCC besiegen

Von Andreas Knobloch *

In Itaquera, einem Stadtbezirk im Osten der brasilianischen Millionenmetropole São Paulo, sind in der Nacht zum Mittwoch der 20jährige Leonardo da Silva sowie der fünf Jahre ältere Vitor Felipe Borges Martins ermordet worden. Vier Männer auf zwei Motorrädern hatten das Feuer auf sie eröffnet. Die Schwester des 25jährigen war bei der Militarisierten Polizei (PM) angestellt, ehe sie im September nach zwei Jahren aus dem Dienst ausschied. Ein Zusammenhang wird vermutet, denn allein seit Beginn dieses Jahres sind in São Paulo bislang 90 Polizisten ermordet worden. Auch deren Familienangehörige werden immer häufiger zur Zielscheibe. In der Nacht zum Donnerstag starben erneut acht Menschen bei Auseinandersetzungen zwischen Kriminellen und der Polizei.

Nur wenige Stunden zuvor hatten am Dienstag São Paulos Gouverneur Geraldo Alckmin und Brasiliens Justizminister José Eduardo Cardozo einen sechs Punkte umfassenden Maßnahmenkatalog vorgestellt, mit dem die Gewalt eingedämmt werden soll. Demnach ist ein nachrichtendienstliches Zentrum geplant, um die Arbeit der verschiedenen Polizeikörperschaften zu koordinieren. Häftlinge sollen aus São Paulo in andere Bundesstaaten verlegt werden, vor allem Führer der Mafiaorganisation »Primeiro Comando da Capital« (PCC), die aus der Haft heraus Operationen leiten. Weitere Punkte sind eine zusätzliche Polizeipräsenz an neuralgischen Punkten wie Häfen, Bundesstraßen und Bahnstrecken, ein Programm gegen Crack sowie die Ausweitung und Perfektionierung der polizeilichen Untersuchungsmethoden. Ziel sei es, die kriminellen Banden »finanziell trockenzulegen«, erklärte Alckmin.

Offiziell wird versucht, die Rolle der PCC im Zusammenhang mit der gestiegenden Zahl ermordeter Polizisten herunterzuspielen. Es handele sich um die gewaltsame Reaktion krimineller Banden auf eine strengere Strategie der Behörden, so der Tenor. Aber Sicherheitsexperten charakterisieren die Morde als vorsätzliche Vergeltungsmaßnahmen dieser mächtigsten kriminellen Organisation des Landes. Die Gruppe, die heute vor allem in Drogenhandel und Geldwäsche verwickelt ist, war 1993 in den überbelegten Gefängnissen São Paulos entstanden, zum Teil als Reaktion auf das desaströse Vorgehen des Staates während der Gefängniserhebungen 1992, als Sicherheitskräfte 111 Häftlinge in Carandiru töteten. Camila Nunes Dias, Wissenschaftlerin am Zentrum für Gewaltstudien der Universität von São Paulo sprach gegenüber der Tageszeitung Folha de S. Paulo von regelrechten Exekutionen an Polizisten und einem Krieg niedriger Intensität. Außerdem gab sie der Polizei eine Mitschuld an der Eskalation der Gewalt. »Phänomene wie diese ergeben sich aus einer ganzen Reihe von Faktoren, niemals nur aus einem Faktor allein, auch wenn jener eine Faktor vielleicht die Krise auslöst. Die Bekämpfung der PCC durch die PM hat zu einem Anstieg der Zahl toter Krimineller nach Auseinandersetzungen mit der Polizei geführt und war einer der entscheidenden Faktoren für den Ausbruch dieser Krise.« Als Schlüsselereignis nannte sie die »Säuberungsaktionen« der Rota, einer berüchtigten Spezialeinheit der Polizei, in Penha, wobei sechs mutmaßliche PCC-Mitglieder erschossen wurden. Im Mai waren drei Polizisten der Rota festgenommen worden, nachdem ein Zeuge beschrieben hatte, wie sie eines der späteren Todesopfer zuvor gefoltert hatten. Darauf habe die Bande reagiert, so Nunes. Auch Menschenrechtsgruppen kritisieren Brasiliens Polizei immer wieder wegen außergerichtlicher Hinrichtungen und wegen Gewaltexzessen.

* Aus: junge Welt, Freitag, 09. November 2012


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