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Die Cariocas sind sauer

Die Menschen in Rio de Janeiro sind fußballbegeistert, aber nicht dumm

Von Norbert Suchanek, Rio de Janeiro *

In vielen Städten wurde am Montag in Brasilien gegen verschwenderische Großereignisse zulasten von sozialen Investitionen demonstriert. Nirgendwo ging es so heiß her wie in Rio de Janeiro. Dort kam es in der Nacht zu schweren Auseinandersetzungen.

100 000 friedliche Demonstranten im Herzen von Rio de Janeiro. Das hat der Christus hoch oben auf dem Corcovado-Berg seit Ende der Militärdiktatur 1985 nicht mehr gesehen. Die sechsspurige Avenida Rio Branco inmitten der Banken und Büro-Wolkenkratzer bis zum Bersten gefüllt mit Menschen, die die verfehlte, lediglich kleine Eliten hofierende Stadt-, Landes- und Bundespolitik satthaben.

Die von der Regierung angekündigte Erhöhung der Buspreise um 20 Centavos, rund 8 Cent, waren der Tropfen, der den bis zum Rand mit maroden Schulen und Krankenhäusern, Diskriminierungen der Favelabewohner, Zwangsumsiedlungen, Menschenrechtsverletzungen und extremer Verteuerung der Lebenshaltungskosten gefüllten Topf zum Überlaufen brachte.

Laut offiziellen Schätzungen versammelten sich wenigstens Hunderttausend Cariocas, wie die Einwohner von Rio genannt werden, am Montagnachmittag zu einer der größten Protestaktionen in der Geschichte Brasiliens, um eine Änderung der Politik einzuleiten.

Ort und Zeit waren gut gewählt. Zur Generalprobe der Weltmeisterschaft 2014 findet zurzeit in Rio de Janeiros für rund 400 Millionen Euro frisch renoviertem Maracanã-Stadion der Confederation-Cup statt, und die Welt schaut zu.

»Jetzt blickt doch die Welt auf Brasilien, alle können sehen, was hier passiert. Alle im Ausland denken, Brasilien ist nur Karneval. Aber in Wahrheit ist hier vieles nicht in Ordnung. Und jetzt ist der Moment, um zu zeigen, dass hier vieles im Argen liegt«, so einer der Demonstranten. Rio de Janeiro ist nicht nur Fußball und Samba, riefen sie, und »Rio wird stillstehen, wenn die Stadt die Preise nicht verringert.« Auf Plakaten forderten sie ein »besseres Brasilien«, ein Ende der Korruption und mehr Geld für Hospitäler, Schulen und Universitäten.

»Für Confed-Cup und WM werden Millionenbeträge verschwendet, während unser Erziehungs- und Gesundheitssystem am Ende ist«, beklagen die protestierenden Cariocas. Tatsächlich rechnet die brasilianische Regierung allein für die Fußballweltmeisterschaft im kommenden Jahr mit Kosten von umgerechnet rund elf Milliarden Euro. Weitere Milliardenbeträge werden die für 2016 am Zuckerhut und Copacabana geplanten Olympischen Spiele kosten.

»Als Brasilianer, der täglich in überfüllte Busse steigt und in einer unterfinanzierten Universität studiert, fühle ich mich verpflichtet, Teil dieser Revolution zu sein«, sagt Student Gael Rodrigues Honorio. »Wir haben Stadien, die Millionen gekostet haben, die Politiker stehlen, wo sie nur können«, schafft sich ein anderer Mitdemonstrant Luft, »wir haben Korruptionsfälle und niemand muss ins Gefängnis. Das alles hat die Bevölkerung wach gemacht. Die 20 Centavos waren der letzte Tropfen. Wir nehmen diese Erhöhung nicht hin, und wir akzeptieren nicht mehr die Vetternwirtschaft im Kongress.«

Das enorme Ausmaß der Proteste in Rio de Janeiro und der anderen Metropolen Südostbrasiliens sorgte nur bei denjenigen für Überraschung, die beflissentlich am Zustand Brasiliens vorbeischauen und stattdessen auf Börsennotierungen und Wachstumsgrafiken von Regierung vertrauten. Die Tausenden von Protestanten sind nicht nur ein paar »linke« Studenten oder von WM-Umsiedlungen betroffene Favela-Bewohner. Arbeiter, Angestellte, Professoren, die Mittelschicht ist mit auf der Straße. Fast jeder in Rio leidet unter der maroden Stadtpolitik, täglichen Verkehrsstaus und den dank WM und Olympia explodierenden Miet- und Grundstückspreisen sowie den seit der Pro-Biospritpolitik der Regierung Lula da Silva (2003-2011) stark angestiegenen Lebensmittelpreisen.

Der Unmut vieler Cariocas über die Stadt- und Landesregierung von Rio de Janeiro hat sich kontinuierlich seit Beginn der auf Polizeigewalt setzenden Politik Sergio Cabrals angestaut. Zuletzt war dies sichtbar, als der Governeur das von einer Gruppe von Ureinwohnern seit 2006 besetzte ehemalige Indigenenmuseum am Maracanã-Stadion mit roher Polizeigewalt räumen lassen hat. Mit Tränengas und Knüppeln gegen friedliche, auf ihre traditionellen Rechte pochende Ureinwohner? »Bereitet man sich so auf eine Weltmeisterschaft vor«, kritisiert die Wissenschaftlerin Fernanda Sánchez von der Universidade Federal Fluminense (UFF), die sich mit den Folgen von Megaevents beschäftigt.

Doch nicht alle Teilnehmer der Großdemonstration im Herzen Rios hatten friedliche Absichten. Eine kleine militante Gruppe von etwa 50 mehrheitlich jugendlichen – das sind etwa 0,002 Prozent der Demonstranten – versuchten zu Ende der Demonstration, mit Gewalt in das Landesparlament einzudringen, das von 80 Polizisten gesichert wurde. Einige der vermummten Demonstranten warfen dann Steine und Molotow-Cocktails auf angerückte Polizeikräfte. Die wiederum setzten Tränengas und Gummigeschossen ein. Ein Auto ging in Flammen auf, und Fernsehbilder zeigten Militanten Demonstranten, die davor in Siegerpose posierten und Fotos von sich machten. Bis in die die frühen Morgenstunden hinein schließlich zogen Randalierer weiter durch die Straßen des Stadtzentrums. Fensterscheiben, Bushaltestellen und Zeitungskioske gingen zu Bruch. Laut einem Bericht der Zeitung »O Globo« und Zahlen der Militärpolizei zufolge wurden insgesamt 20 Polizisten und zehn der Demonstranten verletzt.

Trotz der Ausschreitungen einiger weniger war Rio de Janeiros Montagsdemonstration eine Geschichte machende Friedensdemonstration. »Es geht doch nicht darum unsere Stadt, die wir lieben, kaputtzumachen«, kritisiert Studentin Júlia Vieira die militanten Gruppen, die der gesamten Protestaktion offensichtlich einen Bärendienst erwiesen. »Wir wollen eine andere Politik erreichen. Diese wenigen Militanten repräsentieren nicht die friedliche Bewegung.« Auf einigen der Transparente der Protestbewegung war zu lesen: »Entschuldigen Sie die Störung. Wir verändern gerade Brasilien.« Das war und ist die Intention der Mehrheit: ein friedlicher Wandel hin zu einer sozial gerechteren Gesellschaft.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 19. Juni 2013


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