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Unruhe am Zuckerhut

Mit dem "Musterschüler" Brasilien gerät jetzt das Zugpferd der lateinamerikanischen Wirtschaft in die Krise

Von Andreas Knobloch *

Am vergangenen Dienstag veröffentlichte das staatliche Brasilianische Institut für Geographie und Statistik (IBGE) beunruhigende Zahlen. Die brasilianische Industrieproduktion fiel im Monat November auf ihren tiefsten Stand seit sieben Jahren, und die Aussichten für 2009 sind alles andere als rosig. So rechnen Analysten allgemein mit einem Exportrückgang.

Die weltweite Finanzkrise hat die größte Wirtschaftsmacht Lateinamerikas mit voller Wucht getroffen. Im November ging die Industrieproduktion Brasiliens um 6,2 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat zurück - der größte Absturz seit Dezember 2001.

Vor allem die Krise der Automobilindustrie, die einen Absatzeinbruch von 22,6 Prozent zu verzeichnen hat, drückt auf die Bilanz. So haben die brasilianischen Automobilhersteller im Oktober angefangen, ihre Produktion zurückzufahren. Darüber hinaus wurden - ähnlich wie in Deutschland - Arbeiter entlassen und den Belegschaften kollektive Ferien verordnet.

Doch der Abwärtstrend hat auch andere Branchen erfaßt. Die Maschinenproduktion ging um 11,9 Prozent zurück, die von Druckereierzeugnissen um 14,8, und der Bergbau brach um 10,9 Prozent ein. »Das ist eine generelle Entwicklung, die sich schon in der Vergangenheit angedeutet hat«, so Silvio Sales, Ökonom der IBGE.

Die jetzt veröffentlichten Daten sind deutlich schlechter, als es die Prognosen waren. Im Schnitt war mit einem Rückgang der Industrieproduktion von 3,8 Prozent für November gerechnet worden. Die Konsumgüterproduktion fiel im November um 20,4 Prozent, der größte Rückgang seit Dezember 1997, was auch mit der Abhängigkeit dieses Sektors vom Kreditmarkt zu tun hat. »Wenn Oktober der Monat war, in dem die Welt angehalten wurde, so war November der Monat, in dem sie in einen Abwärtsstrudel geriet«, so die Consulting-Agentur Rosenberg & Co. in einem Papier, in dem sie dies als einen länger anhaltenden Trend prognostiziert. Die Außenhandelsvereinigung AEB rechnet für dieses Jahr mit einem Rückgang der Exporte um 17,6 Prozent gegenüber 2008.

Alles deutet auf ein regelrechtes Crashszenario hin. Die brasilianische Währung, der Real, hat seit August vergangenen Jahres gegenüber dem US-Dollar 45 Prozent an Wert eingebüßt. Die Exportwirtschaft hatte zunächst gehofft, daß der fallende Kurs des Reals die Nachfrage nach brasilianischen Produkten ankurbeln würde, da diese für den ausländischen Markt nun günstiger werden. Steigende Gewinne wurden erwartet, da viele Exporteure in US-Dollar abrechnen, ihre Schulden aber in Reais bedienen.

Statt dessen sind die Industrie- und Konsumgüterproduktion eingebrochen. José Augusto de Castro, Vizepräsident der AEB, rechnet für 2009 ganz allgemein mit einem Rückgang des Handels, dem bislang dynamischsten Sektor der Wirtschaft.

Mitte Dezember waren im brasilianischen Badeort Costa do Sauípe die Staats- und Regierungschefs und mit ihnen die Wirtschaftseliten Lateinamerikas und der Karibik zu einem Gipfeltreffen zusammengekommen, um unter anderem die Auswirkungen der weltweiten Finanzkrise auf die Volkswirtschaften zu diskutieren und geeignete Maßnahmen zu beschließen. So propagierte der venezolanische Präsident Hugo Chávez sein Projekt eines eigenständigen lateinamerikanischen Finanzsystems. Es soll helfen, die traditionellen Machtansprüche der USA auf dem Kontinent zurückzudrängen und als eigenständige Wirtschaftsregion im internationalen Maßstab mehr Gewicht zu erlangen. Er regte die Schaffung eines regionalen Entwicklungsfonds an, in den ein Prozent der Devisenreserven der Staaten Lateinamerikas und der Karibik eingezahlt werden sollten, was ungefähr 500 Milliarden US-Dollar entsprechen würde Darüber hinaus schlug Chávez ein regionales Kompensationssystem vor, mit dem Ziel, den innerlateinamerikanischen Handel in lokalen Währungen abzuwickeln und sich dadurch von der, wie Chávez es nannte, »Diktatur des US-Dollar« zu befreien.

Bereits im Oktober hatten Brasilien und Argentinien im Rahmen einer ganzen Reihe von Wirtschaftsabkommen das sogenannte System zur Zahlung in lokaler Währung - SML (Sistema de Pago en Moneda Local) - eingeführt. Die beiden wirtschaftlich stärksten Nationen des südamerikanischen Staatenbundes Mercosur - sie wickeln zusammen knapp 80 Prozent des gesamten Handelsvolumens der Gruppe ab - verrechnen ihre Ein- und Ausfuhren nicht mehr in US-Dollar, sondern ihren jeweiligen heimischen Währungen Pesos und Reais. Diese Entscheidung galt einigen Analysten bereits als ein erster Schritt hin zu einer gemeinsamen Währung.

Die vielfältigen Versuche, sich aus der Abhängigkeit vom US-Finanzsystem zu befreien, könnten aufgrund des deutlichen Wirtschaftsabschwunges eine neue Dynamik bekommen. Die Ansicht, daß die forcierte wirtschaftliche und monetäre Integration der einzige mittel- und langfristig erfolgverprechende Weg aus der Krise ist, gewinnt in den lateinamerikanischen Staaten jedenfalls immer mehr Anhänger.

* Aus: junge Welt, 14. Januar 2009


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