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Wahrheitskommission in Brasilien

Verbrechen aus der Zeit der Militärdiktatur sollen aufgeklärt werden

Von Andreas Knobloch *

Nach schwierigen Verhandlungen mit den Streitkräften und einer intensiv geführten Debatte im Kongreß hat am Mittwoch abend (21. Sept.) die brasilianische Abgeordnetenkammer der Schaffung einer Wahrheitskommission zugestimmt. Diese soll Menschenrechtsverletzungen zwischen 1946 und 1988 aufklären. Das Hauptaugenmerk aber wird auf den Verbrechen während der Militärdiktatur (1964–1985) liegen.

Kurz vor Mitternacht hatten sich Regierung und Opposition auf einen gemeinsamen Text geeinigt, der die Kriterien für die Auswahl zur Teilnahme an der Kommission festlegt. Doch Präsidentin Dilma Rousseff, die in New York bei der UN-Generalversammlung weilt, legte zunächst ihr Veto gegen einen Passus ein, der von den Kommissionsmitgliedern Unparteilichkeit verlangt. Schließlich aber wurde der Text mit drei Veränderungen gegenüber dem Ausgangsdokument angenommen. Mitglieder in der Wahrheitskommission können demnach nicht werden: Personen, die Führungspositionen in Parteigremien bekleiden, es sei denn, es handelt sich um Ehrenämter; Personen, die nicht mit Unparteilichkeit die Aufgaben ausfüllen können; Personen, die in einem Ausschuß sitzen oder eine andere Position in der öffentlichen Sphäre bekleiden. Die sieben Mitglieder, die alle von Rousseff ernannt werden, sollen sich durch »anerkannte Kompetenz, ethisches Verhalten und Engagement für den Schutz von Demokratie und Menschenrechten« auszeichnen.

Die Wahrheitskommission soll untersuchen, wo und wie Verbrechen begangen wurden – sowohl von Militärs als auch von bewaffneten Widerstandsgruppen. Die Kommission erhält Zugang zu bisher verschlossenen Archiven, kann selbst Untersuchungen anordnen, Zeugen von Menschenrechtsverletzungen befragen und öffentliche Anhörungen zu bisher ungeklärten Kapiteln der Geschichte ansetzen. Zudem macht die Kommission den Weg frei für die Untersuchung des Ausmaßes der »Operation Condor«, einer gemeinsamen Aktion der südamerikanischen Militärregime zur Verfolgung politischer Gegner.

Die Wahrheitskommission erhält jedoch keinerlei Instrumente zur Strafverfolgung. Nach zwei Jahren soll sie ihren Bericht vorlegen. Zunächst muß nun noch die zweite Kammer, der Senat, zustimmen. Nach der Einigung von Regierung und Opposition gilt dies aber als Formsache und dürfte noch in diesem Monat geschehen.

Der Schaffung der Wahrheitskommission waren zwei Jahre zum Teil polemischer Auseinandersetzungen vorausgegangen. Vor allem das Militär hatte sich bis zuletzt gegen die Einsetzung einer solchen Kommission gesträubt und gefordert, auch Verbre­chen der Guerilla zu untersuchen. Zudem bleibt nach der jetzigen Einigung das Amnestiegesetz von 1979 unberührt – eine der Hauptforderungen der Armee. Das Amnestiegesetz begünstigte zwar die Gegner der Militärdiktatur, denn es erlaubte Politikern, Künstlern und anderen die Rückkehr aus dem Exil, schützte aber eben auch die Folterer und Mörder von damals vor Strafverfolgung.

Schätzungen gehen von einigen hundert »Verschwundenen« und rund 20000 Gefolterten während der Militärdiktatur aus. Im Gegensatz zu Chile, Argentinien oder Uruguay wurden in Brasilien die für Folter und Morde Verantwortlichen der Militärregierungen nie vor Gericht gestellt. Die heutige Präsidentin Rousseff war selbst im bewaffneten Widerstand aktiv und wurde von den damaligen Militärmachthabern eingesperrt und gefoltert.

Opfervertreter lobten die Einrichtung der Kommission als »ersten Schritt«, nannten den nun beschlossenen Text aber nicht ausreichend. Gegenüber der Tageszeitung O Globo erklärte Tere­zinha Amorim, Schwester eines 1973 ermordeten Guerillero: »Wir erkennen an, daß es ein Fortschritt ist. Aber eine Kommission mit gerade einmal sieben Mitgliedern ist keineswegs repräsentativ oder prädestiniert, die ungeklärten Kapitel der Vergangenheit in gültiger Form zu bewerten.«

* Aus: junge Welt, 23. September 2011


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