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Zu teure Tickets

Brasilien: Proteste gegen höhere Fahrpreise im öffentlichen Nahverkehr. Polizei setzt Tränengas und Gummigeschosse ein

Von Polyana Tidre *

Am heutigen Dienstag sind in São Paulo, der größten Stadt Brasiliens, erneut Proteste gegen die Erhöhung der Fahrpreise im Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) geplant. Seit Dezember vergangenen Jahres gehen die Menschen in dem südamerikanischen Land dagegen auf die Straße. Heute soll der Protest in die verschiedenen Viertel der Metropole getragen werden, es sind mehrere Kundgebungen angekündigt.

Viele Personen nehmen an den Demonstrationen nicht zum ersten Mal Teil. Der Protest der Brasilianer gegen die übermäßigen Erhöhungen im ÖPNV hat bereits 2013 begonnen. Die »Bewegung für kostenlosen Nahverkehr« (Movimento Passe Livre, MPL) organisierte vor zwei Jahren zunächst kleine Versammlungen. Diese wuchsen innerhalb weniger Wochen zu riesigen Protestzügen von zwei Millionen Menschen heran, die nicht nur die Ticketpreise des ÖPNV, sondern auch die üppigen Ausgaben des Staates für die Fußballweltmeisterschaft in Frage stellten. Sie forderten zusätzlich zu einem kostenlosen, gut organisierten Nahverkehr mehr Geld für Schulen und Krankenhäuser.

Damit machten sie weltweit Schlagzeilen und provozierten die Angst internationaler Investoren. Die Ratingagenturen werteten zu dieser Zeit die Rückzahlungsfähigkeit Brasiliens von »stabil« auf »negativ« ab und drohten mit einer Herabstufung der brasilianischen Bonitätsnote.

Präsidentin Dilma Rousseff versuchte, den Protesten ein rasches Ende zu setzen. Zuerst vergrößerte sie die Zahl der Polizisten bei den Demonstrationen und setzte auch die Militärpolizei ein. Das befeuerte allerdings die Empörung der Bevölkerung und gab der Widerstandsbewegung weiteren Antrieb. Daraufhin versuchte Rousseff, einen Kompromiss mit den Demonstranten zu finden und ging mit vielen Versprechungen teilweise auf deren Forderungen ein. Auch die geplante Erhöhung des Ticketpreises mussten die ÖPNV-Unternehmen aufgeben.

In den letzten Wochen stiegen die Ticketpreise jedoch in mehreren größeren brasilianischen Städten erneut an. Auch in anderen Branchen wurden die Preise für Dienstleistungen und Güter neu bestimmt. Die ÖPNV-Unternehmer begründen ihre Entscheidung mit den steigenden Betriebskosten. Obwohl die Löhne und die Spritkosten in letzter Zeit zwar regelmäßig zunahmen, halten viele Verbraucher die Preiserhöhung für übertrieben – in vielen Städten ist sie fast doppelt so hoch wie die Inflation. In São Paulo muss ein Arbeiter, der den Mindestlohn verdient und am Tag zwei ÖNPV-Verbindungen nutzt, fast 30 Prozent seines Einkommens allein für öffentliche Transportmittel ausgeben. In Rio de Janeiro klagte sogar die Staatsanwaltschaft gegen die Erhöhung und bezeichnete diese als verfassungswidrig. Die beantragte einstweilige Verfügung wurde jedoch am 6. Januar abgelehnt. Dagegen gehen auch jetzt, wie vor zwei Jahren, mehrere tausend Menschen immer häufiger auf die Straße.

In São Paulo fand am Donnerstag vergangener Woche bereits die sechste Protestveranstaltung statt, seit die Erhöhung Anfang Januar eingeführt worden war. Wie El País Brasil berichtete, marschierten nach Angaben der Organisatoren rund 5.000 Menschen zum Haus des Bürgermeisters von São Paulo, Fernando Haddad. Auch hier ging die Polizei heftig gegen die Demonstranten vor.

Der Einsatz von Tränengas und Gummigeschossen ist an der Tagesordnung. Zahlreiche Teilnehmer werden im Laufe oder nach den Demonstrationen verhaftet. Es wurde auch schon eine Einheit der Polizei, die auf Kampfeinsätze spezialisiert ist, zur Verstärkung herangezogen.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 3. Februar 2015


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