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Brasiliens Präsidentin gewinnt Stichwahl

Knapper Sieg für Dilma Rousseff *

Dilma Rousseff bleibt Präsidentin in Brasilien. Die 66 Jahre alte Amtsinhaberin erhielt nach Angaben des Obersten Wahlgerichts bei der Stichwahl am Sonntag 51,6 Prozent der Stimmen. Ihr konservativer Herausforderer Aécio Neves kam auf 48,4 Prozent. Damit können Rousseff und ihre gemäßigt linke Arbeiterpartei PT das größte Land Lateinamerikas für weitere vier Jahre regieren. Die wiedergewählte Präsidentin bot der Opposition Gespräche an. »Statt wie im Wahlkampf die Unterschiede zu betonen, müssen jetzt Brücken gebaut werden«, erklärte sie vor jubelnden Anhängern. Es müssten Gemeinsamkeiten gefunden werden, um die Probleme des Landes schnell zu lösen. Der Stichwahl war ein für Brasilien ungewöhnlich aggressiver Wahlkampf vorausgegangen. Neves gratulierte Rousseff zu ihrem Sieg. »Das Wichtigste sei, Brasilien in einem gemeinsamen Projekt zu vereinen«, sagte der Politiker der rechtsliberalen PSDB.

Das knappe Wahlergebnis verweist auf eine Spaltung des Landes: Rousseff gewann vor allem im armen Nordosten und im Norden des Landes, in einigen Bundesstaaten sogar mit über 70 Prozent der Stimmen. Neves setzte sich im wohlhabenderen Süden und in den westlichen Agrarstaaten durch. Im Industriestaat São Paulo bekam er über 60 Prozent Zustimmung. Der unternehmensfreundliche Neves plädierte für eine liberale Wirtschaftspolitik. Im Wahlkampf hatte Rousseff angekündigt, ihre Sozialpolitik fortzusetzen. Sie plädierte für staatlichen Einfluss auf die Wirtschaft, um mit Lohnsteigerungen und der Schaffung von Arbeitsplätzen das Gefälle zwischen Armen und Reichen zu verringern.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 28. Oktober 2014


Auf Lulas Spuren

Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff erringt mit Stichwahlsieg gegen Herausforderer Aécio Neves zweite Amtszeit

Von Niklas Franzen und Gerhard Dilger, São Paulo **


Mit knapper Mehrheit ist Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff wiedergewählt worden. Die linksgerichtete Politikerin gewann mit 51,6 Prozent der Stimmen die Stichwahl gegen Aécio Neves.

»Mit Dilma kam der Regen, mit Dilma kam der Regen«, skandierten Tausende im Nieselregen auf der Avenida Paulista, dem Finanzzentrum von São Paulo, als am Sonntagabend das Ergebnis der zweiten Runde feststand: Präsidentin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei PT kam auf 51,64 Prozent der Stimmen und wurde damit für vier weitere Jahre im Amt bestätigt. Aécio Neves, Kandidat der rechtsliberalen PSDB, erzielte 48,36 Prozent der Stimmen. Seit Monaten liegt die Megametropole buchstäblich auf dem Trockenen, zwei Drittel der Paulistanos müssen bereits zuweilen auf frisches Leitungswasser verzichten.

In einem der knappsten Wahlergebnisse in der Geschichte Brasiliens trennten nur 3,4 Millionen Stimmen die beiden Kandidaten. »Dilmas Wiederwahl bedeutet eine Niederlage des elitären Programms der PSDB und einen Sieg der Ärmsten«, sagte der 19-jährige Student Fabio di Fabio am Rande der Feierlichkeiten in São Paulo. Die Afrobrasilianerinnen Sara Santos und Mariana Carvalho freuten sich, dass es mit der »Politik der Chancengleichheit weitergeht«. Ein frustrierter Neves-Fan rief aus seiner Luxuskarosse: »Weg mit Euch Kommunisten, ich wandere aus!«

Rousseff und Neves hatten sich zuvor einen aggressiven Wahlkampf geliefert, gerade die sozialen Netzwerken quollen über von Klassenhass und rassistischen Attacken gegen Schwarzen und Arme. Freundschaften bei Facebook wurden nach politischen Diskussionen aufgekündigt. Die Stimmung im Land war von extremer Polarisierung geprägt, in mehreren Städten gingen in den letzten Tagen Wähler aufeinander los.

Am Freitag beschuldigte die Wochenzeitschrift »Veja«, Sprachrohr der rechten Opposition, in großer Aufmachung Ex-Präsident Lula und Rousseff, sie hätten »alles« über den jüngsten Korruptionsskandal im halbstaatlichen Ölkonzern Petrobras gewusst. Doch wie schon vor den Wahlen 2006 und 2010 ging diese Offensive in letzter Minute ins Leere.

Während Neves im Süden, Südosten und im Mittelwesten des Landes die Nase vorn hatte, gewann Rousseff in Amazonien und mit sensationellen 72 Prozent im Nordosten. Dort, im ehemaligen Armenhaus Brasiliens, profitieren besonders viele Menschen von den Sozialprogrammen der Regierung, und dort sich die Modernisierung des Landes in zwölf Jahren PT-Regierung besonders deutlich geworden.

In ihrer ersten Ansprache nach der Wiederwahl versprach die überglückliche Präsidentin in einem Hotel in Brasília, gegen die »Straflosigkeit« bei Korruptionsfällen vorgehen zu wollen. »Manchmal haben in der Geschichte knappe Ergebnisse größere und schnellere Veränderungen bewirkt als sehr klare Siege«, sagte Rousseff, »das ist meine Hoffnung«. Sie wolle eine Reform des Wahlsystems einleiten, in Zusammenarbeit mit dem Parlament bei gleichzeitiger Mobilisierung der Bevölkerung durch eine Volksabstimmung. Ihre zweite Amtszeit werde im Zeichen des Dialogs stehen, beteuerte die als unnahbar geltende Staatschefin, »ich möchte auch mit allen sozialen Bewegungen und den Kräften der Zivilgesellschaft diskutieren.«

Mit Erleichterung wurde das Ergebnis von den progressiven Regierungen der Region aufgenommen, Cristina Fernández de Kirchner aus Argentinien und der Ecuadorianer Rafael Correa gehörten zu den ersten Gratulanten. »Ein Sieg der Völker Lateinamerikas und der Karibik«, twitterte Venezuelas Präsident Nicolás Maduro.

Im Parlament jedoch wird Rousseff eine starke Opposition gegenüberstehen. Dort werden mehr als je zuvor das Agrobusiness, andere Unternehmer, konservative Evangelikale oder die Vertreter einer reaktionären »Sicherheitspolitik« den Ton angeben, die PT stellt nur noch 70 von insgesamt 513 Abgeordneten. Außerdem gab es am Sonntag in 14 der 27 Bundesstaaten Stichwahlen um das Amt des Gouverneurs. Rio de Janeiro und sechs weitere Staaten werden künftig von der Zentrumspartei PMDB regiert, die auch den alten und neuen Vizepräsidenten Michel Temer stellt.

Mehr ist Dilma Rousseff auf Kompromisse mit dem bürgerlichen Lager angewiesen. Wie bei der »Wasserkrise« in São Paulo sind nun politisches Gespür und Verhandlungsgeschick gefragt. Ein rascher Wandel wird schwierig.

** Aus: neues deutschland, Dienstag, 28. Oktober 2014


Dilma tritt aus Lulas Schatten

Geradeaus statt Rechtswende: Amtsinhaberin Dilma Rousseff siegt in der Stichwahl um Brasiliens Präsidentschaft

Von Peter Steiniger ***


Die Reise geht weiter. Zum vierten Mal in Folge konnte am Sonntag die brasilianische Arbeiterpartei PT eine Präsidentschaftswahl für sich entscheiden. Staats- und damit auch Regierungschefin bleibt für weitere vier Jahre Dilma Rousseff, in Brasilien meist einfach nur Dilma genannt, die 51,6 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen erhielt. Acht weitere Parteien, von der bürgerlich-populistischen PMDB bis hin zu den Kommunisten der PCdoB, fuhren unter dem Segel von Dilmas Koalition »Mit der Kraft des Volkes«. Auch die großen Gewerkschaften des Landes gaben Rückenwind für eine Wiederwahl der Präsidentin.

Da bei der Abstimmung vor drei Wochen kein Kandidat die notwendige Mehrheit erreichte, mussten die zwei Bestplatzierten in eine Stichwahl. In der zweiten Runde stimmten nun für Rousseff fast 3,5 Millionen Wähler mehr, als für den Kandidaten einer Mitte-rechts-Allianz, Aécio Neves von der PSDB. Die Ziellinie erreichten sie nach einem mehr als hunderttägigen, von zunehmender Härte geprägten Wahlkampf. Noch bei keiner Präsidentschaftswahl nach dem Ende Militärdiktatur (1964–1985) war im größten Land des Kontinents mit derzeit fast 143 Millionen Wahlberechtigten der Abstand zwischen Sieger und Verlierer so gering. Das Resultat der Wahl ist für das politische Kräfteverhältnis in ganz Lateinamerika bedeutsam.

Die Gegensätze in der politischen Geographie Brasiliens treten einmal mehr deutlich hervor. Während Neves die Wahl in den meisten südlichen und zentralen Bundesstaaten, darunter São Paulo, größtes wirtschaftliches Ballungsgebiet Lateinamerikas, für sich entschied, sah er im historisch benachteiligten und weniger entwickelten Norden und Nordosten fast kein Land. Im Amazonas ging er mit nur einem Drittel der Stimmen baden, in Pernambuco fuhr Dilma Rousseff satte 70 Prozent ein.

Protestwähler, die in der ersten Runde noch für die Ex-PT-Politikerin Marina Silva und ihre »Dritte Kraft« gestimmt hatten, liefen hier trotz deren Empfehlung und versuchter Einflussnahme großer Medienkonzerne nicht zu den »Tucanos« von der PSDB über. In Bahia sah der Ökonom aus Belo Horizonte mit nur zwei Millionen gegenüber 4,7 Millionen Stimmen für die PT-Politikerin schwarz. Auch in den Bundesstaaten Rio de Janeiro und Minas Gerais lag die alte und neue Präsidentin vorn. Pikant: Neves hatte Minas acht Jahre lang als Gouverneur regiert. Brasilien versprach er eine Wende: die Befreiung der Wirtschaft aus staatlichen Zwängen, die Ankurbelung der Konjunktur, ein freundliches Investitionsklima und die Bewahrung sozialer Errungenschaften.

Die PT trachtete im Wahlkampf danach, Neves' soziales Image zu demontieren und malte eine drohende Wiederkehr der alten Machteliten an die Wand. Sie stellte die Erfolge ihrer Reformpolitik heraus, die Millionen Brasilianern einen sozialen Aufstieg ermöglichte oder sie aus Armut und Hunger erlöste. Allerdings weist die Arbeiterpartei nach zwölf Jahren Beteiligung an der Macht auch erhebliche Gebrauchsspuren und einen Verlust an Glaubwürdigkeit auf. Fragwürdige Allianzen und Kompromisse, Korruptionsfälle und Schiebereien kratzen hier stärker am Lack als bei den Altetablierten.

Die junge Generation kennt die Zeit davor nicht aus eigener Erfahrung. Massenkonsum und Konsumstreben sind eine das Leben prägende Normalität geworden. Ein Rückgang der Konjunktur und die steigende Teuerung gefährden den bescheidenen neuen Wohlstand, der längst nicht alle erreicht hat. Verkehrsinfarkte und Wohnungsnot in den Großstädten, schlechte öffentliche Schulen und Gesundheitseinrichtungen, Gewalt und sozialer Rassismus sind noch immer Grundkonstanten der Gesellschaft.

Nach den großen Protesten gegen die Milliardenausgaben für die FIFA-WM legte die Regierung große Investitionsprogramme auf, nahm Tausende kubanische Ärzte unter Vertrag, um den Ärmeren schnell zu helfen. Noch mehr und noch größere Veränderungen, eine politische Reform der Volksvertretungen, die Bekämpfung von Korruption und Straflosigkeit hat Rousseff den Brasilianern für ihre zweite Amtszeit versprochen. Mit ihrem zuletzt sehr offensiven Wahlkampfstil hat sich die frühere Widerstandskämpferin neuen Respekt verschafft und ihre eigene Rolle gegenüber Amtsvorgänger und PT-Übervater »Lula« da Silva gestärkt.

*** Aus: junge Welt, Dienstag, 28. Oktober 2014


Bröckelnde Wählerbasis

Martin Ling über den Wahlsieg von Dilma Rousseff in Brasilien ****

Brasiliens Arbeiterpartei (PT) kann durchatmen: Dilma Rousseff hat die Stichwahl gewonnen, weit knapper als vor vier Jahren, aber Sieg ist Sieg. Viel Zeit zum Verschnaufen nach einem harten Wahlkampf bleibt der alten und neuen Präsidentin jedoch nicht. Es gibt viele Baustellen zu bearbeiten. Dass ein wirtschaftsliberaler und ausgewiesen unternehmerfreundlicher Kandidat wie Aécio Neves über 48 Prozent der Stimmen einheimst, ist ein Schuss vor den Bug für die PT. Offenbar hat sich ein Teil derjenigen, denen in der PT-Ära seit 2003 der Aufstieg in die untere Mittelschicht gelang, sich wegen der schwächelnden Konjunktur von Neves’ Versprechen ködern lassen, die Wirtschaft wieder auf Vordermann zu bringen.

Rousseff muss in ihrer neuen Amtszeit die vernachlässigten öffentlichen Dienstleistungen wie Gesundheit, Bildung und Transport ins Visier nehmen. Dort bedarf es massiver Investitionen und nur so wird die PT die relativen Aufsteiger zurückgewinnen können, denen das Mehr an Konsum allein nicht mehr reicht. Um das zu finanzieren, kommt Rousseff um eine Kraftprobe mit den Reichen und der oberen Mittelschicht nicht herum: Nur mit einer progressiveren Vermögens- und Einkommensbesteuerung als bisher kann sie die für die Investitionen notwendigen Mittel beschaffen. Leicht wird das nicht, denn im Senat und Parlament ist die PT in der Minderheit.

**** Aus: neues deutschland, Dienstag, 28. Oktober 2014 (Kommentar)


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