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Bulgariens zäher Aufstieg aus der Talsohle

Der Staatshaushalt für 2014 verrät regierungsübergreifende Kontinuität

Von Thomas Frahm, Sofia *

Will man Sensationsberichten über blutige Demonstrantenköpfe, Korruption und politische Machtkämpfe in Bulgarien etwas entgegensetzen, empfiehlt sich der nüchterne Blick in den Staatshaushalt.

Der bulgarische Staatshaushalt für 2014 – der erste der umstrittenen Koalitionsregierung unter Ministerpräsident Plamen Orescharski – steht kurz vor seiner Verabschiedung. Erste und zweite Lesung sind bereits über die Bühne der Volksversammlung gegangen, der endgültige Beschluss wird für kommende Woche erwartet.

Das politische Klima in Bulgarien ist nicht nur aufgeheizt, es wird auch aufgeheizt, denn aus Einigkeit lässt sich kein Profit schlagen. In den Gerüchten darum, wer die seit Mai andauernden Demonstrationen gegen die Regierung unter Führung der Sozialisten (BSP) steuert und bezahlt, wer die Berichte der Fernsehsender und der auflagenstarken Zeitungen gegen den jeweiligen politischen Gegner in Auftrag gibt, geht fast völlig unter, dass der bulgarische Staatshaushalt regierungsübergreifende Kontinuität und trotz der Krisenjahre seit 2008 sogar einen wirtschafts- und sozialpolitischen Willen verrät.

Natürlich gelte auch weiterhin das ungeschriebene Gesetz: »Wenn bestimmte Gelder gestohlen werden können, dann werden sie auch gestohlen.« So sagte es Konstantin Trentschew, Vorsitzender des Bulgarischen Gewerkschaftsbundes KNSB, nach der ersten Lesung des Haushalts. Dennoch lassen sich starke Stabilitätsindikatoren ausmachen. Bei einem Bruttoinlandsprodukt von etwa 40 Milliarden Euro belaufen sich die Einnahmen des bulgarischen Staatshaushalts vor wie nach dem Regierungswechsel auf knapp über 15 Milliarden Euro – fast unverändert 37 bis 38 Prozent der Wirtschaftsleistung. Davon stammen 1,9 Milliarden aus EU-Mitteln. Abzüglich des Mitgliedsbeitrags von knapp einer halben Milliarde sind das fast 10 Prozent. Weitere 20 Prozent stammen aus den Einnahmen der Sozialversicherungen, 5,2 Prozent aus der Gewerbe-, 8,3 Prozent aus der Einkommensteuer, 14 Prozent aus Akzisen (Tabak, Alkohol, Treibstoffe) und 25,8 Prozent aus der Mehrwertsteuer.

Der große Anteil der letzteren verdeutlicht, wie wichtig für die wirtschaftliche Erholung und staatliche Konsolidierung Bulgariens eine Ankurbelung des Binnenverbrauchs wäre. Dazu gab es in fünf Krisenjahren keinen Spielraum. Es ging nur darum, das Haushaltsdefizit zu begrenzen, das in diesem wie im letzten Jahr bei knapp über einer halben Milliarde Euro oder 1,8 Prozent liegen wird.

Politischer Gestaltungswille lässt sich daran erkennen, dass zwei neue staatliche Investitionsfonds im Umfang von einer halben Milliarde Euro eingerichtet wurden. Im Brennpunkt steht die Regionalentwicklung, die einer weiteren Öffnung der Schere zwischen Hauptstadt und Restbulgarien entgegenwirken soll. Vorgesehen ist, die Gelder nach dem Wettbewerbsprinzip für nachhaltige Projekte zu vergeben und dabei vor allem auch die Entlohnung der in den Projekten Beschäftigten sicherzustellen. Bei einer Arbeitslosenquote von offiziell 12,5 Prozent ist das eine sinnvolle Maßnahme, damit nicht Luftschloss bleibt, was Wohnungsbau werden soll.

Ewgeni Iwanow, Geschäftsführer der bulgarischen Arbeitgeber- und Industriellenvereinigung, sieht allerdings genau dort die Gefahr eines versteckten Defizits, das von den geplanten 1,8 rasch über die Maastricht-Grenze von 3 Prozent springen könnte. »Wenn diese Mittel«, so Iwanow, »in die richtigen Hände fallen, wird die Wirtschaft 2014 um etwa 1,8 Prozent wachsen; aber wenn wieder gestohlen wird, wird das Budget schon im nächsten Frühjahr aktualisiert werden müssen.«

Premierminister Orescharski selbst bezeichnete das Budget angesichts unsicherer Einnahmeposten – zu denken ist vor allem an Einnahmen aus dem Pipelineprojekt »South Stream«, die im zweiten Halbjahr 2014 fließen sollen – als »höchst angespannt, aber realisierbar«. Sergej Stanischew, Vorsitzender der BSP, hatte während der ersten Lesung moniert, dass die staatlichen Steuerrücklagen in der vergangenen Legislaturperiode auf das absolute Minimum von 2,3 Milliarden Euro gesunken seien, so dass auch auf dieser Seite der politische Spielraum der neuen Regierung sehr gering sei.

Dennoch hat die Regierung in ihrem ersten Haushalt neben dem Vorrang für die Ankurbelung der Wirtschaft zwei weitere kleine Akzente gesetzt: Es handelt sich um die Erhöhung der Ausgaben für Schulen und Hochschulen und um eine Erhöhung des Sozialhaushalts. Gewerkschaftschef Trentschew hatte Zahlen präsentiert, wonach sich in den wenigen Monaten seit der Parlamentswahl die Zahl der Niedrigverdiener mit Einkommen unter der Armutsgrenze von 200 Euro pro Erwachsenem um 80 000 auf 600 000 Personen erhöht habe. Dies entspricht etwa 15 Prozent der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter!

Die Linderung der sozialen Spannungen ist in Bulgarien schon deshalb enorm wichtig, weil sich – angeheizt von nationalistischen Gruppierungen – angesichts der Flüchtlingsströme Fremdenhass und Diskriminierung breit machen, Erscheinungen, die in Bulgarien stets politisch induziert waren und daher auch politisch bekämpft werden müssen.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 22. November 2013


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