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Favorit ist Amtsinhaber Parwanow

Die Frage bleibt, ob genügend Bulgaren an der Präsidentschaftswahl teilnehmen

Von Diljana Lambrewa *

Am Sonntag (22. Oktober 2006) haben die Bulgaren die Wahl: Sie stimmen über einen neuen Staatspräsidenten ab. Sieben Bewerber treten an.

Letzten Umfragen zufolge hat Amtsinhaber Georgi Parwanow, ehemals Vorsitzender der Bulgarischen Sozialistischen Partei (BSP), diesmal jedoch als unabhängiger Kandidat antretend, mit rund 56 Prozent die besten Chancen auf den Sieg. Sollten am Sonntag überdies mehr als 50 Prozent der Wähler zu den Urnen gehen, wäre der 49-jährige Parwanow im Amt bestätigt und eine Stichwahl wäre überflüssig.Favorit ist Amtsinhaber Parwanow An zweiter Stelle in den Umfragen liegt mit 17 Prozent derzeit der gemeinsame Kandidat der rechten Parteien Demokraten für ein starkes Bulgarien (DSB) und Union der Demokratischen Kräfte (SDS), Nedeltscho Beronow, ein ehemaliger Verfassungsrichter. Nur knapp dahinter folgt der Chef der nationalistischen Partei Ataka, Wolen Siderow, der mit rund 15 Prozent der Stimmen rechnen kann.Favorit ist Amtsinhaber Parwanow Als amtierender Präsident ist Georgi Parwanow im Unterschied zu den anderen Kandidaten in den Medien ständig präsent: morgens beim Besuch eines Betriebes, mittags mit einer Ansprache zum bevorstehenden EU-Beitritt und abends als Kandidat. Zum Vorteil gereicht ihm auch, dass er sich auf die solide Unterstützung seiner regierenden Genossen von der BSP verlassen kann: Energiepreishöhungen wurden auf die Zeit nach den Wahlen verschoben. Stattdessen wird jetzt ausführlich über Feiertage aus Anlass des EU-Beitritts informiert. Parwanow tritt im Wahlkampf als Einiger der Nation auf, der – wie er verkündet – einen Krieg gegen jeden zu führen bereit ist, der ethnische oder religiöse Konflikte provoziert. So verteidigt er vehement die Partei der türkischen Minderheit, die Bewegung für Rechte und Freiheiten (DSP), vor Angriffen aus rechtsnationalen Kreisen. Die DPS ist an der Regierung beteiligt und unterstützt Parwanow, der vor Jahren noch kritisiert hatte, dass »in der Strategie der DPS die Rechte einer ethnischen Gruppe immer Vorrang vor der nationalen Sicherheit gehabt haben«.Favorit ist Amtsinhaber Parwanow Die zweitstärkste Regierungspartei, die Nationale Bewegung Simeon II., hat keinen eigenen Kandidaten aufgestellt und will Parwanow unterstützen, falls es zu einem zweiten Wahlgang kommt. Dem Präsidenten wird erheblicher Einfluss auf das Zustandekommen der Koalition von Sozialisten und Anhängern des ehemaligen Zaren Simeon Sakskoburggotski zugeschrieben, die sich nach den Wahlen im letzten Jahr zusammengerauft hatten, um Bulgarien über die Hürden vor der EU-Aufnahme zu hieven.Favorit ist Amtsinhaber Parwanow Während Gegner Parwanows in diesem Sommer in alten Geheimdienstakten einen Informanten mit dem Decknamen Goze fanden und ihn mit dem studierten Historiker in Verbindung brachten, ließ sich Nedeltscho Beronow demonstrativ auf eine Mitarbeit bei der Staatssicherheit überprüfen. Seine Chancen hat er damit aber kaum verbessert, zumal er als Kompromisskandidat gilt, auf den sich die zersplitterte Rechte erst nach langen, zermürbenden Debatten einigte. Sein erklärtes Hauptanliegen, die bulgarische Wirtschaft durch angemessene Repräsentanz in Westeuropa zu stärken und dadurch einen höheren Wohlstand für die Gesellschaft zu erreichen, ist nur elitären Kreisen zu vermitteln. In weiten Teilen der Bevölkerung bleibt es unpopulär. Gegen Beronow spricht zudem sein hohes Alter von 78 Jahren. Favorit ist Amtsinhaber Parwanow Für eine unangenehme Überraschung könnte Wolen Siderow sorgen. Der Chef der Nationalisten, die 2005 auf Anhieb mit rund acht Prozent der Stimmen ins Parlament einzogen, versucht, mit populistischen Parolen zu punkten. So fordert er, die DPS zu verbieten, die bisher fast jeder Nachwenderegierung angehörte und unverhältnismäßig großen Einfluss ausübe. Mit derlei Rhetorik schürt er Hass auf Minderheiten, die bei Verlierern der »Transformation« durchaus ankommt. Daran ändert auch nichts, dass sich Siderow, der im vergangenen Frühjahr während einer Autofahrt in eine obskure Schießerei verwickelt war, wiederholt diskreditiert hat.Favorit ist Amtsinhaber Parwanow Die größte Unbekannte ist indes die Wahlbeteiligung. In der bulgarischen Gesellschaft hat sich Parteienverdrossenheit breit gemacht. Viele Menschen sind unzufrieden und enttäuscht, weil sie ihren Platz in der Übergangsgesellschaft nicht gefunden haben. Die Konsequenz: Viele könnten, so die Prognosen, radikale Kräfte wie Ataka unterstützen oder die Wahlen einfach ignorieren. Eine niedrige Wahlbeteiligung aber könnte Parwanows Freude über den Sieg trüben. Immerhin hat der erste im Amt bestätigte Präsident in Nachwendebulgarien keine geringere Aufgabe, als das Land am 1. Januar 2007 in die Europäische Union zu führen.

* Aus: Neues Deutschland, 21. Oktober 2006


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