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Der "General" träumt vom Sieg

Wieder ein Regierungswechsel in Sofia?

Von Gabi Kotlenko *

Das Ergebnis der bulgarischen Parlamentswahlen am 5. Juli scheint vorhersehbar: Schon bei den EU-Wahlen am 7. Juni wurde die Partei des Sofioter Oberbürgermeisters Boiko Borissow (GERB – Bürger für eine Europäische Entwicklung Bulgariens) mit 24,5 Prozent der Stimmen zur stärksten Kraft. Eine stabile Regierung für die nächsten vier Jahre versprechen die Umfragen indes nicht.

Es gibt etwa 300 Parteien in Bulgarien, rund 30 treten zur Wahl an, fünf oder sechs werden wohl ins Parlament einziehen. Antoaneta Primatarowa, Programmdirektorin des Zentrums für Liberale Studien, tut sich schwer, die Mitte in der Parteienlandschaft zu finden. »Exkönig Simeon hat vor acht Jahren versucht, die Mitte zu spielen. Jetzt steht er wieder rechts.«

Erinnerungen an die Wahl 2001 werden wach, als der ehemalige König Simeon Sakskoburggotski einen erdrückenden Sieg verbuchte und zum Ministerpräsidenten »gekrönt« wurde. Versprochen hatte er die Verbesserung der Lebensverhältnisse aller Bulgaren binnen 800 Tagen. Lang ist es her ...

Die Königspartei namens Nationale Bewegung Simeon II. (NDSW), die sich neuerdings Nationale Bewegung für Stabilität und Aufschwung nennt, ist ein Auslaufmodell. Viele Bulgaren setzen nicht mehr auf den König, sondern auf den General. Gemeint ist Boiko Borissow, dessen GERB beste Chancen auf den Wahlerfolg hat. Borissow, gelernter Feuerwehrmann, diente sowohl dem ehemaligen König als auch Todor Shiwkow, dem früheren Partei- und Staatschef der Volksrepublik Bulgarien, als Leibwächter. Seit einigen Jahren ist er Oberbürgermeister der Hauptstadt.

Für Primatarowa ist Borissow vor allem ein Produkt der Medien: »Sie haben ihn ausgetragen, geboren und jetzt hätscheln sie ihn.« Dabei scheint sein Stern in Sofia schon leicht zu sinken. Viel habe er nicht vollbracht, meinen viele Hauptstädter. Stinkende Müllberge in den Straßen, die Borissow längst beseitigt haben wollte, lassen seine Werte auf der Sympathieskala nicht gerade nach oben schnellen. Deshalb hält Frau Primatarowa die GERB bereits für entzaubert, aber rund ein Drittel der Leute stehen noch dahinter.

Zwetan Zwetanow, seit Gründung im Dezember 2006 nomineller GERB-Vorsitzender, treuer Gefolgsmann Borissows und Vizebürgermeister Sofias, ist sich des Erfolgs seiner Partei sogar sicher. Die GERB-Gründung erklärt er ganz einfach: »Im Herbst 2005 äußerten viele Bulgaren den Wunsch, sich mit Herrn Borissow zu treffen. Wir haben dann die Gründung der Partei beschlossen. Mit Hilfe der (CSU-nahen – G.K.) Hans-Seidel-Stiftung haben wir begonnen, diesen Traum im Land zu organisieren.«

»Wir haben gespürt: Die Menschen brauchen eine Zivilgesellschaft«, erläutert Zwetanow mit treuherzigem Augenaufschlag. »Im Augenblick sieht es nicht gut aus im Lande. Wir haben das Vertrauen der europäischen Steuerzahler nicht genutzt.« Bulgarien habe jene Leute nicht genannt, die schuld sind an der Sperrung von EU-Fördermitteln. Deshalb müsse und wolle GERB die Wahlen gewinnen, »damit wir die volle Verantwortung für alles übernehmen«. Schon im Gefühl des sicheren Sieges kündigt er an: »Wir suchen den Dialog mit der Opposition im nächsten Parlament.«

Auf den Vorwurf, GERB habe kein Programm, erwidert Zwetanow allen Ernstes: »Boiko Borissow hat gesagt, unser Programm ist das In-Ordnung-Bringen von Straßen. Eine reale Debatte über ein Programm war nicht möglich. Doch GERB hat ein Antikrisenprogramm.« Das kennt nur niemand.

Prognosen sagen GERB etwa 25 Prozent der Stimmen voraus, den Sozialisten des amtierenden Premiers Sergej Stanischew dagegen nur 16 Prozent. Aber auch wenn Borissows Partei zur stärksten wird – Bulgarien wird eine Koalitionsregierung brauchen. Und wie die sich zusammensetzt, wird sich erst abzeichnen, wenn klar ist, welche Spieler auf dem Feld sind.

Sicher scheint der Parlamentseinzug für GERB, BSP, die »Türkenpartei« DPS, die NDSW (beide derzeit Koalitionspartner der BSP) und die nationalistische Partei Ataka, die laut Umfragen bis zu acht Prozent erwarten kann. Die streng antikommunistischen Parteien, die Bulgariens »Wende« einst geprägt haben, sind teilweise heftig zerstritten oder ganz von der Bildfläche verschwunden. Ein Mitte April erlassenes Wahlgesetz hätte es kleinen Parteien noch schwerer gemacht, ins Parlament einzuziehen. Die Hürde für Parteienbündnisse wurde von vier auf acht Prozent heraufgesetzt. Doch da das Verfassungsgericht die Erhöhung der Zugangshürde aufgrund einer Klage der Opposition für verfassungswidrig erklärt hat, können sich die Rechtsliberalen wieder Hoffnungen machen. Denn gerade hatten sich die beiden Größten unter den »kleinen« Rechtsliberalen zu einem solchen Bündnis zusammengeschlossen: die Union der Demokratischen Kräfte (bulgarisch SDS) unter Martin Dimitrow und die vor Jahren von ihr abgespaltenen Demokraten für ein Starkes Bulgarien (DSB) unter dem früheren Premier Iwan Kostow. Umfragen sehen dieses Bündnis bei sieben Prozent. Hoffen kann das Bündnis sogar auf eine Regierungsbeteiligung, denn für den Fall eines Wahlerfolgs erwägt GERB eine Koalition. Gleiches verlautete bereits aus Kreisen der NDSW und der Minderheitenpartei DPS. Immerhin ringt sich GERB-Chef Zwetanow zu der Aussage durch, nicht mit der nationalistischen Ataka zu koalieren.

Zuweilen kommt es freilich nach Wahlen ganz anders: Da entstehen Koalitionen, die vorher kategorisch ausgeschlossen wurden. Kaum jemand hatte der derzeitigen Koalition aus Bozialisten, Königs- und Türkenpartei 2005 große Überlebenschancen eingeräumt. Zumal NDSW und DSP lautstark verkündet hatten, sie würden sich niemals mit den Sozialisten verbünden.

Für Überraschungen könnten auch neue Parteien sorgen. Eine Unbekannte ist z. B. die Partei RZS (Ordnung, Gesetzlichkeit und Gerechtigkeit) des neuen Volkstribuns Jane Janew. Der war noch 2005 im Bündnis mit der SDS ins Parlament eingezogen. Bei der Europawahl am 7. Juni ging er erstmals allein ins Rennen und bewies mit 4,69 Prozent der Stimmen, dass man mit einem einzig auf den Kampf gegen die Korruption zielenden Wahlkampf Erfolg haben kann.

40 Prozent der Bulgaren wollen überhaupt nicht wählen. »Ein wahlmüdes und von der Politik enttäuschtes Volk« sieht Antoaneta Primatarowa. Und nach dem Hick-hack um Wahlgesetz, Bündnisse und Hürden, die zu überspringen sind, fragt sie besorgt: »Verstehen die Bulgaren das alles?«

Was macht GERB nach der Wahl, lautete eine Frage an Parteichef Zwetanow. Aus seiner Antwort hätte man Realitätssinn herauslesen können: »Greif nicht zur Bratpfanne, bevor du den Fisch gefangen hast.« Doch das ganze Gespräch hatte verraten, dass er den Fisch eigentlich schon im Netz sieht.

Bulgariens Premierminister seit 1990

Zehn Ministerpräsidenten haben sich seit 1990 an der Aufgabe versucht, Bulgarien zu regieren. Sieben mussten ihr Amt vorzeitig abgeben oder waren von vornherein nur »Übergangspremiers«. Und jene, die sich volle vier Jahre an der Spitze der Exekutive hielten, verloren bei den folgenden Wahlen bisher stets ihr Amt. Auch dem »Postkommunisten« Sergej Stanischew könnte es jetzt so ergehen. Wieder scheint Bulgarien ein »Experiment« mit einem vermeintlich starken Mann bevorzustehen.
  • Andrej Lukanow (BSP) 3. 2.90 – 7.12.90
  • Dimitar Popow (parteilos) 7.12.90 – 8.11.91
  • Filip Dimitrow (SDS) 8.11.91 – 30.12.92
  • Ljuben Berow (parteilos) 30.12.92 – 17.10.94
  • Reneta Indschowa (SDS) 17.10.94 – 25. 1.95
  • Schan Widenow (BSP) 25. 1.95 – 13. 2.97
  • Stefan Sofijanski (SDS) 13. 2.97 – 21. 5.97
  • Iwan Kostow (SDS) 21. 5.97 – 24. 7.01
  • Simeon Sakskoburggotski (NDSW) 24. 7.01 – 17. 8.05
  • Sergej Stanischew (BSP) 17. 8.05 – ?


* Aus: Neues Deutschland, 4. Juli 2009


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