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Warum "Zar Kiro" und nicht "Mutra Goscho"?

Bulgarien: Ataka-Nationalisten schlachten ethnische Krawalle für den Präsidentschaftswahlkampf aus

Von Michael Müller, Sofia *

Am 23. Oktober wird in Bulgarien ein neuer Präsident gewählt. Lange sah es nach dem üblichen politischen Geplänkel aus. Im September bekam der Wahlkampf jedoch einen krassen ethnisch-nationalistischen Akzent. Nach blutigen Zusammenstößen zwischen Bulgaren und Roma gab es bereits Hunderte Verhaftungen.

Das südostbulgarische Straßendorf Katuniza unterscheidet sich nicht von anderen in der Gegend um Plowdiw, der zweitgrößten bulgarischen Stadt. Im Zentrum Bushaltestelle, Tankstelle, zwei, drei Geschäfte, vor der Gaststätte immer ein paar Kaffee trinkende und Tabla spielende Rentner. In den Gärten wächst viel Wein und jede zweite Hausfassade ist landestypisch unverputzt. Wie in vielen bulgarischen Dörfern wohnen auch einige Roma in Katuniza. Am 17. September wird ein 19-jähriger Bulgare von einem mit Roma besetzten Auto angefahren und tödlich verletzt. Die gegenseitigen Anschuldigungen spitzen sich zu. Bulgaren stecken Häuser und Autos der in den Unfall verwickelten Romafamilie an. Deren Oberhaupt, die Medien nennen ihn gern »Zar Kiro«, droht als Reaktion mit Mord und Totschlag.

Siderow heizt die Stimmung an

Schnell finden sich Bulgaren auch anderenorts zu Protesten gegen Roma zusammen. Es gibt in Dutzenden Dörfern und Städten Krawalle mit Hunderten Festnahmen. Eine in Assenowgrad demonstrierende Frau sagt im Fernsehen: »Wir zahlen unsere Steuern, wir benehmen uns normal, aber die Zigeuner haben nichts als Privilegien.« Die Meinung ist durchaus verbreitet im Land.

Andere, nachdenkliche Stimmen sind momentan öffentlich selten. Bei einer Straßenumfrage des Rundfunksenders »Chorisont« meint ein Passant, es sei doch eigenartig, dass in Bulgarien beim Thema Privilegien immer wieder gern und schnell auf Roma gezeigt wird, »doch kaum jemand zieht mit den gleichen Transparenten vor Großunternehmen oder politische Machtzentralen. Warum nur gegen Zar Kiro und nicht auch gegen Mutra Goscho?« Mutra - Bulgarisch für »Schnauze« - nennt man die mafiosen Neureichen.

»Es handelt sich nicht um ethnische Konflikte, sondern um kriminelle Vorgänge«, erklärt der Innenminister. Dieser Feststellung eigentlich nicht angemessen, besuchen bereits einen Tag nach den ersten Krawallen der konservativ-populistische Premier Boiko Borissow und der sozialistische, bei den bevorstehenden Wahlen nicht mehr kandidierende Präsident Georgi Parwanow gemeinsam das Dorf Katuniza. »Das Schlimmste wäre, wenn der Wahlkampf ethnisch geprägt wird«, sagt Parwanow. »Wenn wir es dazu kommen lassen, erwartet uns nichts Gutes.«

Eine reale Kostprobe dieser Ahnung erhält die Öffentlichkeit wenig später bei einer Parlamentssitzung in Sofia. Denn eine Partei, deren Einfluss in den vergangenen Monaten gesunken war, sieht sich plötzlich wieder obenauf: die nationalistische Ataka. Ihr Chef Wolen Siderow wettert gegen den Staat, »der seit 20 Jahren einen Schutzschirm über die Zigeunerbarone hält«, und er nennt es eine »Schande für den Parlamentarismus, die Bulgaren mit der Lösung des Zigeunerproblems auf der Straße allein zu lassen«. Vor Journalisten forderte er vom Regierungschef für seine Partei das Innenministerium, »weil wir wissen, wie man die Polizei führt, damit die Sicherheit der bulgarischen Bürger gewährleistet ist«.

Die Forderung mag spinnert klingen, und sie ist in der Tat unrealistisch. Doch Siderow und seine Kameraden sind in Bulgarien nicht ewa Exoten. Ataka versteht sich programmatisch als Vertreterin aller, »die der Herkunft oder der Geisteshaltung nach Bulgaren sind.« Sie bezeichnet Türken, Roma und ausländisches Kapital als ihre Hauptfeinde. Mit diesem Programm wurde die Partei 2009 viertstärkste Kraft im Parlament, toleriert teilweise die seither allein regierende GERB-Partei von Premier Borissow. Bei den Präsidentschaftswahlen 2006 war Siderow sogar in die Stichwahl gegen den Sozialisten Parwanow gekommen. Der Ataka-Chef unterlag zwar mit 25:75 Prozent deutlich, doch er bekam 1,5 Millionen Stimmen!

Jetzt kandidiert Siderow erneut. Auf die Frage des Staatsfernsehens, ob er, wenn er Präsident würde, auch ein Präsident für Roma sein wolle, sagt er: »Ich wäre ein Präsident für alle, die loyal zum Staat stehen - alle anderen gehören ins Gefängnis. Oder ab zum Autobahnbau.«

Mit solchen Thesen dringt Ataka in die Mitte der Gesellschaft vor. Bei dem derzeit wieder einmal aufbrechenden Romaproblem gibt es ohnehin einen breiten historischen Konsens. »Zigan« ist in Bulgarien - ähnlich wie in anderen südosteuropäischen Ländern - von jeher eines der bösesten Schimpfwörter. Witze über Roma sind wie Judenwitze. Aber auch in den vermeintlich salonfähigen steckt alles an Vorurteilen: faul, dumpf, schlitzohrig, kriminell.

Aber vielleicht bleiben die Krawalle ja nur eine schlimme Episode. Denn obwohl Bulgarien neben Rumänien weiterhin das - gemessen am Sozialniveau und am Volksvermögen - ärmste EU-Land ist, durchlebt es momentan eigentlich ruhigere wirtschaftliche Zeiten als in den vergangenen 20 Jahren. Das lässt die Regierung gar von einer beispielgebenden »bulgarischen Insel der Stabilität in der Region« prahlen. Doch sie übersieht geflissentlich, dass Bulgarien bis vor Kurzem noch erheblich von der »Anschubfinanzierung« seines EU-Beitritts im Jahre 2006 profitierte. Die jedoch verebbt zusehends.

Borislaw Stefanow, Direktor der bulgarischen Investitionsagentur, nennt alarmierende Zahlen über Gewinntransfers ausländischer Firmen: Allein die drei größten hätten im ersten Halbjahr 2011 rund 500 Millionen Euro an die Mutterkonzerne überwiesen - Geld, das also nicht mehr in Bulgarien investiert wird. Dass das Staatsunternehmen »Bulgartabak« für 100 Millionen Euro privatisiert wurde, sei in dieser Situation ein Tropfen auf den heißen Stein.

Und da ist noch ein Fass ohne Boden in Bulgarien, ein demografisches. Knapp 9 Millionen Menschen lebten 1990 im Land, heute sind es 7,5 Millionen. Dazu haben ein Geburtenrückgang und die Abwanderung von rund 800 000 Bulgaren ins Ausland geführt. »Ein Exodus der besten Jahrgänge, der qualifiziertesten, innovativsten Menschen«, klagt Boris Wyltschew, der an der Sofioter Universität zur Zeitgeschichte der Wirtschaft forscht und lehrt. Zwar wären die Bulgaren, die im 19. Jahrhundert die Wiedergeburt der Nation einleiteten, vorher auch alle im Ausland gewesen, »doch die hatten damals alle das erklärte politische Ziel zurückzukommen. Davon ist heute nichts zu hören. Und der Exodus geht weiter«, befürchtet Wyltschew.

Zweikampf um das Spitzenamt

Daran wird auch der neue Staatspräsident kaum etwas ändern können. Der Soziologe Michail Mirtschew, der eine Umfrageagentur leitet, sagt wie die meisten Beobachter einen Zweikampf voraus: zwischen dem Kandidaten der regierenden GERB-Partei, dem Minister für Regionalentwicklung Rosen Plewneliew, und Iwailo Kalfin, dem Kandidaten der Bulgarischen Sozialistischen Partei (BSP), früher Außenminister des Landes. Mit steigenden Chancen für den Sozialisten, meint Mirtschew, seit Kalfin kürzlich eine linke Integra-tionsfigur, den bulgarischen Filmliebling Stefan Danailow, zu seinem designierten Vizepräsidenten machte.

Mirtschew glaubt, dass eine Niederlage des GERB-Kandidaten den Sympathieballon, mit dem die Partei immer noch über Bulgarien schwebt, »schlagartig platzen lassen könnte«. Sollten die Populisten von GERB verlieren, sehe er zwar noch keine Neuwahlen, aber einen qualvollen Niedergang deren Regierungsmandats.

Welchen Platz eine Kraft wie Ataka im weiteren Verlauf einnehmen könnte, ist ungewiss. Dass die Partei oben, vielleicht sogar indirekt als Retter von GERB, dabei ist, scheint indes wahrscheinlich. Auch »ungarische Verhältnisse«, also ein Mix aus indoktrinierendem Populismus und rechtsradikalem Nationalismus, sind für Bulgarien nicht auszuschließen.

* Aus: neues deutschland, 11. Oktober 2011


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