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Schwierige Wahl für Bulgariens Wutbürger

Nach Massenprotesten im Februar wird am Sonntag ein neues Parlament bestimmt

Von Thomas Frahm, Sofia *

Fast 6,9 Millionen Wahlberechtigte sind aufgerufen, am Sonntag (12. Mai) ihre Stimme bei den bulgarischen Parlamentswahlen abzugeben. Zwei Monate vorfristig, denn nach Massenprotesten zu Jahresbeginn war die Regierung unter Boiko Borissow - ebenso überraschend wie wohlkalkuliert - zurückgetreten.

Über 40 Formationen stellen sich diesmal zur Wahl. Doch nur fünf haben laut Umfragen reale Chancen, die 4-Prozent-Hürde zu überspringen und in das 240-köpfige Parlament einzuziehen. Erwartet wird ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen der im Februar zurückgetretenen Regierungspartei GERB (Bürger für die Europäische Entwicklung Bulgariens) und der BSP, den bulgarischen Sozialdemokraten. Klare Mehrheiten zeichnen sich nicht ab, vielmehr werden komplizierte Koalitionsverhandlungen erwartet.

Die Stimmung in Bulgarien ist vor den Parlamentswahlen gespannt, aber nicht mehr euphorisch. Bei Meinungsumfragen zur Zeit der großen Proteste im Februar, die sich an Strompreiserhöhungen entzündet hatten, aber auch gegen hohe Lebenshaltungskosten und Korruption gerichtet waren, erklärten noch 66 Prozent der Wahlberechtigten, sie wollten ihre Stimme abgeben. Inzwischen ist dieser Wert auf knapp über 50 Prozent gesunken. Die meisten professionellen Beobachter der politischen Landschaft führen diesen Abwärtstrend auf einen pünktlich zur Hochphase des Wahlkampfes von einem anonymen Mitarbeiter des Innenministeriums an die Medien lancierten Abhörskandal zurück. Der ehemalige Innenminister Zwetan Zwetanow wurde ungesetzlicher Lauschangriffe beschuldigt, die er sogar noch einen Monat nach dem Rücktritt der GERB-Regierung Boiko Borissows angeordnet haben soll. Aparterweise betreffen die an die Presse gelangten Bänder, deren Authentizität wegen der schlechten Aufzeichnungsqualität noch nicht feststeht, auch seinen eigenen früheren Chef. Die Experten vermuten daher, dass die gesunkene Wahlbereitschaft vor allem auf die Enttäuschung bisheriger GERB-Wähler zurückzuführen sei. Die zahlreichen Pressemeldungen über den beträchtlichen Umfang der staatlichen Abhöraktionen könnten die Menschen allerdings auch derart verunsichert haben, dass viele Befragte selbst demoskopischen Instituten aus Misstrauen keine Angaben über ihr Wahlverhalten mehr machen wollen.

Bei den Politikern der fünf politischen Formationen, die reale Chancen auf den Einzug in die Volksversammlung haben, geht nicht nur deshalb die Angst um, dass es keine klaren Mehrheiten für sie und ihre möglichen Koalitionspartner geben könnte. Sie befürchten überdies, dass enttäuschte Wähler ihre Stimme aus Protest Kleinstparteien geben könnten, die keine Chance auf den Parlamentseinzug haben.

Da aus der Protestbewegung keine neue einheitliche politische Kraft hervorgegangen ist, sind Borissows GERB und Sergej Stanischews BSP (die wieder im Wahlbündnis Koalition für Bulgarien antritt) mit vorausgesagten 25 bis 35 Prozent der abgegebenen Stimmen die einzigen Parteien, die als Führer einer künftigen Regierungskoalition in Frage kommen. Beide könnten jedoch aufgrund der Skandale Stimmen an die nationalistisch-populistische Partei Ataka verlieren. Ataka appelliert durch sachlich falsche, aber der ethnischen Mehrheit schmeichelnde Schuldzuweisungen an die Adresse der Roma und durch Kampfansagen gegen ausländische Investoren, die Bulgarien ausbeuten, an den gekränkten Stolz der Menschen. Dadurch steigerten die Rechtspopulisten ihre Umfragewerte zuletzt auf 7,5 Prozent.

Profitieren könnte von der Verunsicherung der Wähler auch Meglena Kunewa, die ihre politische Laufbahn 2001 in der Partei des ehemaligen Zaren Simeon II. begann, sich als EU-Kommissarin für Verbraucherschutz einen Namen machte und nun mit einer eigenen politischen Bewegung namens Bulgarien der Bürger antritt. Kunewa darf sich Hoffnungen machen, dass derzeit genau 4 Prozent der Wähler bereit sind, ihrem politischen Willen zu mehr demokratischer Transparenz Glauben zu schenken.

Das treueste Wahlvolk hat nach wie vor die Bewegung für Rechte und Freiheiten (DPS), auch unter ihrem neuen Parteichef Ljutfi Mestan, und zwar unter den ethnischen Türken sowie den bulgarischen Muslimen (Pomaken), die ihr auch bei diesen Wahlen mindestens 10 Prozent der Stimmen sichern dürften.

Die genannte Verunsicherung unter den Wählern ist vermutlich auch der Grund dafür, dass alle Parteien derzeit vor Koalitionsaussagen zurückschrecken. Wie schwer die Lage einzuschätzen ist, zeigt auch der Widerspruch zwischen dem ungeheuren Zulauf, den die bisherige Regierungspartei GERB auf ihren Wahlkundgebungen verzeichnete, und der Pressemeldung der Protestbewegung »Orlow Most« (Adlerbrücke - benannt nach dem Ort der wichtigsten Proteste im Februar in Sofia), die vor wenigen Tagen erklärte: »Die Politiker haben der Stimme des Volkes nicht zugehört. Darum haben wir nicht vor, uns zurückzuziehen. Wir werden am Sonntag in Sofia protestieren, und das ist - das dürfen Sie glauben - erst der Anfang.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 11. Mai 2013


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