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Der Traum vom normalen Leben

In Burundi leben Tausende Kinder ohne Perspektive auf der Straße

Von Philipp Hedemann, Bujumbura *

Wer in Burundi einmal auf der Straße lebt, wird dort für den Rest seines kurzen Lebens bleiben. Das trifft auch zahlreiche Kinder. Im drittärmsten Land der Welt leben zahlreiche Kinder ohne feste Unterkunft, ohne Schule, Arzt und Zukunft auf der Straße.

»Kannst Du mich mitnehmen? Bitte!« Immer wieder fragt Ciril den Mann, der ihm so viele Fragen stellt. Er weiß nicht, wo der Reporter lebt, der 14-Jährige weiß nur: Überall ist es besser als dort, wo er wohnt. Ciril lebt wie Hunderte andere Kinder auf den Straßen der burundischen Hauptstadt Bujumbura. Nirgendwo ist das Leben im drittärmsten Land der Welt unbarmherziger.

»Wenn uns die Polizei nicht mit ihren Knüppeln schlägt, dann schlagen uns die anderen Gangs. Die meisten sind älter und stärker als wir. Wir müssen ständig wegrennen«, erzählt Ciril. Er ist das jüngste Mitglied seiner Bande. Seit über zwei Jahren hat er kein Dach mehr über dem Kopf, seit zwei Jahren hat er nicht in einem Bett geschlafen. Noch nie in seinem Leben war er beim Arzt, nie hat er eine Schule von innen gesehen.

»Als meine Eltern sich trennten, bin ich bei meinem Vater geblieben, aber seine neue Frau wollte mich nicht. Da bin ich zurück zu meiner Mutter gegangen. Aber der neue Mann meiner Mutter wollte mich auch nicht. Da hat mich meine Mutter davongejagt«, erzählt Ciril mit fester Stimme. Auf der Straße wird nicht geweint, dafür haben sie hier alle schon zu viel erlebt. Hier gibt es keine Mutter, die einen in den Arm nimmt, wenn man traurig ist, keinen Vater, der einen beschützt, wenn man Angst hat, keinen Familie, die hinter einem steht, wenn man in Schwierigkeiten gerät.

In Burundi leben Tausende Kinder auf der Straße. Nach Schätzung des US-amerikanischen Geheimdienstes CIA geht nur jedes zweite Kind zur Schule, rund ein Viertel der Zehn- bis 14- Jährigen verrichtet Kinderarbeit, vor allem Straßenkinder werden zur Prostitution gezwungen.

Ein Bürgerkrieg zwischen Hutu und Tutsi, Rebellen und Regierung erschütterte eines der kleinsten und dichtestbesiedelten Länder Afrikas mit seinen zehn Millionen Einwohnern von 1993 bis 2005. Mindestens 250 000 Menschen starben. Auch auf Grund der verheerenden Aidsepidemie - vermutlich ist jeder 15. Erwachsene mit dem HI-Virus infiziert - wachsen in der ehemaligen deutschen Kolonie viele Kinder als Waisen auf. Sie landen besonders oft auf der Straße.

Doch bis auf Dusabe haben alle Mitglieder aus Cirils Gang noch Eltern. Ciril und seine Jungs wären lieber Waisen als von ihren eigenen Eltern davongejagt worden zu sein. Cirils neue Familie sind Pascal (18), Eric (17), Jean-Marie (16) und Dusabe (15). Auch wenn er seine Eltern vermisst, ist er froh, dass die älteren Kinder ihn in ihre Gang aufgenommen haben. Denn wer nicht selbst auf sich aufpassen kann, den will keiner in seiner Gang haben, der ist auf der Straße nur Ballast. Da hilft auch Betteln nicht. »So lange Straßenkinder noch klein und niedlich sind, können sie sich mit Betteln meist halbwegs über Wasser halten. Doch spätestens wenn sie in die Pubertät kommen, gibt ihnen kaum noch jemand etwas«, sagt Théodora Nisabwe, Psychologie-Professorin an der Université du Burundi in Bujumbura. Wenn das Betteln nichts mehr abwirft, werden viele der obdachlosen Kinder in die Kriminalität gezwungen. »Die anderen Gangs klauen, schnüffeln Lösungsmittel und nehmen Drogen, aber wir nicht«, sagt Ciril. Es ist eher unwahrscheinlich, dass das stimmt, aber auf der Straße ist erlaubt, was hilft, zu überleben. Klauen, lügen, alles.

Viele Straßenkinder wurden so während des Bürgerkriegs zu Mördern. »Da sie nichts zu verlieren hatten, wurden sie besonders oft von den Rebellen rekrutiert. Sie wurden meist von niemandem akzeptiert, sahen in jedem einen Feind. Straßenkinder wurden deshalb manchmal besonders grausame Kindersoldaten«, erklärt Psychologie-Professorin Nisabwe.

Der Krieg ist vorbei, und es fällt leichter, sich Ciril in einer Schuluniform als in einem Kampfanzug vorzustellen. »Ich möchte zur Schule gehen, in einem echten Haus wohnen und später einen eigenen Laden eröffnen, damit ich jeden Tag satt werde und nicht von dem leben muss, was andere Leute wegwerfen«, sagt der 14-Jährige. Wahrscheinlich wird Cirils Traum immer Traum bleiben. Wer in Bujumbura einmal auf der Straße ist, verbringt dort meist den Rest seines kurzen Lebens.

* Aus: neues deutschland, 24. Januar 2012


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