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Kampf um die Moneda

Vor 35 Jahren: Der letzte Tag der demokratisch gewählten Regierung Allende in Chile

Von Johnny Norden *

Am 4. September 1971 wurde Salvador Allende zum Präsidenten Chiles gewählt. Mit seiner Präsidentschaft war der bisher größte Versuch der revolutionären Weltbewegung verbunden, auf der Grundlage einer bürgerlich-demokratischen Verfassung den Weg zum Sozialismus zu gehen. Tausend Tage und Nächte später war Allende tot und das Experiment in einem Blutbad erstickt.

Am 4. September 1973 fand in Santiago zum dritten Jahrestag des Wahlsiegs eine Demonstration mit einer Million Einwohner der Hauptstadt und seiner Umgebung statt. Es war die größte Veranstaltung, die je in Chile stattgefunden hatte. Die Demonstranten waren in kämpferischer Stimmung und verlangten entschlossene Maßnahmen gegen die Konterrevolution. Salvador Allende fühlte sich durch diese eindrucksvolle Vertrauensbekundung bestärkt, seine Idee eines Referendums umzusetzen. Mit einer demokratischen Volksabstimmung sollte der Präsident größere Vollmachten erhalten. Eine gute Idee zur falschen Zeit.

Am 7. September wurde der Plan bekannt gegeben, Allende wolle sich am 11. September mit einer Rede an die Nation wenden. Die konterrevolutionären Militärs entschlossen sich, sofort loszuschlagen.

Am 11. September wurde Allende um 5 Uhr geweckt. Am Telefon war der stellvertretende Polizeichef, General Urrutia. Er teilte mit, dass chilenische Marineverbände die Hafenstadt Valparaiso besetzt hätten. Allende wies ihn an, mit den ihm zur Verfügung stehenden Kräften die Straße zwischen der Hauptstadt Santiago und Valparaiso zu sperren. Unmittel-bar nach dem Gespräch ließ sich der Präsident mit dem Polizeichef General Sepulveda verbinden und befahl ihm, die Wachen für den Präsidentenpalast La Moneda zu verstärken.

Allende ging zu dieser Zeit davon aus, dass es sich in Valparaiso um eine isolierte Aktion handelte, um den Putschversuch eines einzelnen Armeeteils. In Wirklichkeit hatte der zu den Verschwörern zählende Admiral Merino in der Nacht vom 10. zum 11. September seinen vorgesetzten Oberbefehlshaber der Marine abgesetzt, das Kommando über die im Hafen lie-genden Kriegsschiffe und die Marineinfanterie übernommen und dann vorzeitig losgeschlagen. Allende konnte auch nicht wissen, dass die Putschisten die regierungstreuen Generäle Urrutia und Sepulveda von der Kommunikation mit ihren Einheiten abgeschnitten und durch General Mendoza ersetzt hatten. So hatte die Konterrevolution in den Morgenstunden die letzten Stützen der Unidad Popular in den bewaffneten Kräften beiseite geräumt.

Allende versuchte von zu Hause aus eine telefonische Verbindung mit dem drei Wochen zuvor ernannten Oberbefehlshaber der Armee General Pinochet herzustellen. Ans Telefon ging dessen Adjutant und teilte lakonisch mit: »Mein General steht unter der Dusche.« Gegen 7 Uhr ließ sich Allende in den Präsidentenpalast fahren. Dort sammelte sich der Kreis seiner engsten Mitarbeiter: sechs Minister der Regierung, seine Ärzte, seine beiden Töchter, seine persönliche Sekretärin, sein Kanzleichef sowie einige Journalisten, mit denen Allende schon seit Jahren zusammengearbeitet hatte. Dazu kamen etwa 30 Genossen der Präsidentenleibwache: junge Männer der Kommunistischen und der Sozialistischen Partei Chiles.

Um 8 Uhr war die Lage immer noch konfus. Von den Parteiführern der Unidad Popular ließ nur Carlos Altamirano, der Vorsitzende der Sozialistischen Partei, von sich hören. Er schlug Allende angesichts der gefährlichen Situation vor, in ein Versteck zu gehen. Doch dieser lehnte ab: »Der Präsident gehört in die Moneda – da hat ihn das Volk hingeschickt!«

Eine halbe Stunde später war alles klar: Die Militärführung gab sich über Radio zu erkennen. Sie sei zum äußersten Kampf gegen »die schwerste Krise in Wirtschaft und Moral, die das Land erschüttert«, entschlossen. Unter Androhung von Gewalt vom Boden und aus der Luft forderte sie Allende auf, abzudanken und die Macht der Militärjunta zu übergeben. Allende reagierte sofort: Er ließ sich mit der Radiostation »Magallanes« verbinden, einem kleinen, von der KP betriebenen Sender: »Ich gebe meine unwiderrufliche Entscheidung bekannt, Chile in seinem Ansehen, seiner Tradition in seiner Gesetzlichkeit und seiner Verfassung weiter zu verteidigen.« Den darauf folgenden Vorschlag der Putschisten, ihn und seine Familie sofort in ein Land seiner Wahl auszufliegen, lehnte Allende ab. Er versammelte die im Präsidentenpalast befindlichen Personen und sagte: »Sie werden bombardieren.«

Die Moneda war derweil von Kampftruppen und Panzern umzingelt worden, Kampfflugzeuge rasten im Tiefflug über das Gebäu-de. Allende entschloss sich zu einer letzten Rede an das Volk. Radio »Magallanes« war die letzte linke Radiostation auf Sendung. Allende sprach langsam, in geschliffenen und klaren Sätzen, als habe er sich in den vergangenen Monaten schon mehrmals diese Situation vorgestellt und in Gedanken die Worte gesagt, mit denen er nun von seinem Volk Abschied nahm. Anschließend versuchte Allende alle, die nicht kämpfen konnten oder wollten, zum Verlassen der Moneda zu bewegen.

Kurz nach 10 Uhr begannen die Putschisten mit Panzern und Maschinengewehren den Präsidentenpalast zu beschießen. Um 12 Uhr griff die Luftwaffe an und feuerte 18 Raketen ab, die alle den Präsidentenpalast trafen. Trotzdem setzten sich die Verteidiger der Moneda noch weitere zwei Stunden zur Wehr. Sie wurden dabei von Genossen aus den umliegenden Ministerien unterstützt, die die angreifenden Truppen beschossen.

Gegen 15 Uhr war der tapfere Widerstand gebrochen. Die letzten Verteidiger verließen den zerstörten Präsidentenpalast. Truppen drangen in das Gebäude ein. Sie fanden den Präsidenten in seinem Arbeitszimmer: Der Schädel zerschmettert. Die Umstände des Todes von Allende sind bis heute nicht eindeutig geklärt. Pinochet wurde gemeldet: »Der Präsident hat Selbstmord begangen.«

Das Tonband mit der letzten Rede Allendes rettete Elogio Suarez, der Direktor von Radio »Magallanes«, bevor die Junta-Truppen den Sender stürmten. Am 23. September wurde das Band von einem DDR-Diplomaten nach Berlin gebracht und wenige Tage später veröffentlicht.

* Der Autor, Lateinamerika-Experte, war der genannte DDR-Diplomat, der Allendes letzte Rede ins Ausland gerettet hatte.

Aus: Neues Deutschland, 11. September 2008


Chronik - Dramatische Ereignisse

  • 4. September 1970: Der Kandidat der Unidad Popular (UP), Salvador Allende, gewinnt die Präsidentschaftswahlen mit 36,3 Prozent.
  • 22. Oktober: Auf den Oberbefehlshaber der chilenischen Armee, General René Schneider, wird von rechten Gruppierungen ein Attentat verübt, an dessen Folgen jener drei Tage später verstirbt.
  • 11. Juli 1971: Das chilenische Parlament beschließt die Nationalisierung der Bodenschätze.
  • 1. Dezember: Frauen aus begüterten Familien protestieren, Topfdeckel schlagend, gegen die linksgerichtete Regierung.
  • April 1972: Die Aufteilung des Großgrundbesitzes ist beendet.
  • 4. Dezember: Allende beklagt vor der UN-Vollversammlung in New York eine »unsichtbare Blockade«, initiiert durch die USA, zur wirtschaftlichen und politischen Isolierung Chiles.
  • 29. Juni 1973: Das 2. Panzerregiment von Santiago unternimmt einen ersten Putschversuch (»Tanquetazo«), belagert stundenlang den Regierungspalast La Moneda.
  • Juli: Die Transportunternehmer treten landesweit in einen wochenlangen Ausstand.
  • 9. August: Allende beruft ein Kabinett der nationalen Rettung ein.
  • 23. August: Der Oberbefehlshaber der Armee, General Carlos Prats, tritt zurück und wird durch General Augusto Pinochet ersetzt.
  • 4. September: Massendemonstrationen in Santiago und anderen chilenischen Städten zur Unterstützung Allendes.
  • 9. September: Nachdem am 22. August die Abgeordnetenkammer Allende ihr Misstrauen ausgesprochen hat, beschließt der Präsident, eine Volksabstimmung anzusetzen, wozu es jedoch nicht mehr kommt.
  • 11. September: Die Militärs unter Pinochet putschen gegen die Allende-Regierung.
  • 17. September 1974: US-Präsident Gerald Ford bekennt die finanzielle Unterstützung des Putsches gegen Chiles demokratisch gewählte Regierung durch die CIA.



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