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Gewaltstrategie gescheitert

Chile: Erstes Abkommen in Aysén

Von Marinela Potor, Santiago de Chile *

Iván Fuentes, Sprecher der Sozialen Bewegung im chilenischen Aysén, hat wieder Hoffnung geschöpft. »Heute haben wir begonnen, Licht am Ende des Tunnels zu sehen«, sagte er am Freitag (Ortszeit) gegenüber der Nachrichtenagentur Prensa Latina. Zuvor hatten sich Vertreter der Protestierenden aus dem chilenischen Patagonien und der Zentralregierung auf die Gründung einer Sonderwirtschaftszone in dem Gebiet geeinigt, in der aufgrund der isolierten Lage besondere Bedingungen gelten sollen.

»Ich glaube, der Regierung ist klargeworden, daß ihre Gewaltstrategie nicht funktioniert hat. Je mehr Gewalt die Polizisten anwendeten, umso mehr Patagonier gingen auf die Straße, und umso mehr wuchs die Unterstützung aus ganz Chile«, sagte auch die Journalistin Claudia Torres, die beim Regionalsender Radio Santa María arbeitet, eins der wenigen unabhängigen Medien der Region. »In Chile kann man nicht darauf hoffen, daß die Politiker etwas tun. Wenn wir etwas verändern wollen, müssen wir das selbst in die Hand nehmen«, unterstrich sie gegenüber junge Welt.

Die Proteste hatten vor über einem Monat im Süden Chiles mit friedlichen Demonstrationen, Straßenblockaden und anderen Aktionen begonnen. Am 5. Februar blockierten einige Fischer Straßen und Autobahnen in der Region, um mit Unterstützung der lokalen Bevölkerung für eine Senkung der hohen Lebenshaltungskosten, eine bessere Versorgung in den Krankenhäusern sowie mehr Mittel für Schulen und Universitäten zu demonstrieren. Die Menschen im Süden Chiles, über 2000 Kilometer von der Hauptstadt Santiago entfernt, fühlen sich von der Zentralregierung vernachlässigt und haben deshalb ein Bündnis gegründet, das eine bunte Mischung aus Intellektuellen, Gewerkschaftern, Schülern, Fischern und aktiv gewordenen Bürgern vereint. Doch bei der Regierung stießen die Forderungen lange Zeit auf taube Ohren. Obwohl sogar mehrere Minister des konservativen Kabinetts von Präsident Sebastián Piñera in die Region reisten, blieben alle Verhandlungen ohne Ergebnisse. Am 15. März verhängte die Regierung dann sogar den Ausnahmezustand über die Region Aysén in Patagonien. Die Proteste seien zu gewalttätig geworden, der soziale Frieden sei gestört, deshalb müßten nun die Notstandsgesetze angewendet werden, hieß es aus Santiago. Spezialeinheiten der Polizei wurden nach Patagonien geschickt.

»Erst seit die Spezialeinheiten bei uns angekommen sind, ist tatsächlich der Ausnahmezustand ausgebrochen«, erzählte Claudia Torres. »Seit dem 15. März habe ich mit eigenen Augen gesehen, wie Frauen verprügelt wurden, wie Polizisten nachts in Häuser eingedrungen sind und um sich geschossen haben, und einer meiner Kollegen wurde sogar vor laufender Kamera blutig geschlagen.« Ihr Sender hat seit dem Beginn des Konfliktes ein »offenes Mikrofon« eingerichtet, um die Bürger über die Geschehnisse auf dem laufenden zu halten. Jede Nacht können Zuhörer sechs Stunden lang anrufen und berichten. »Wir zensieren nicht, und so kommen wirklich alle zu Wort, egal ob sie für oder gegen die Sozialbewegung sind«, so Torres, die die Sendung moderiert. »Ein Anruf, der mich sehr bewegt hat, kam von einem Bürger aus Aysén. Er berichtete, wie die Polizei gerade in sein Haus eindrang. Man hörte Glas zerbrechen, Schüsse fielen und Kinder schrien. Das ist schon sehr aufwühlend.«

Nicht nur Aktivisten, sondern auch Journalisten wie Claudia Torres und ihre Kollegen sind gefährdet. Mehrfach hat sie Drohanrufe bekommen. Unbekannte warnten, wenn sie weiter berichte, würde ihr oder ihren Kindern etwas passieren. »Um meine Familie mache ich mir Sorgen, aber um mich selbst habe ich keine Angst, denn es ist meine Arbeit, meine moralische Pflicht, über das zu berichten, was hier passiert«, unterstrich sie.

* Aus: junge Welt, 26.03.2012


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