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Chance auf späte Gerechtigkeit

Die chilenische Justiz verfolgt 39 Jahre nach der Tat die Mörder des legendären Sängers Víctor Jara

Von Harald Neuber *

Das juristische Nachspiel zur Ermordung des Sängers und Gitarristen Víctor Jara zu Beginn der Pinochet-Diktatur 1973 ist nach fast vier Jahrzehnten angelaufen: Sechs Beschuldigte des Mordes an dem Liedermacher haben sich in Chile der Justiz gestellt. Ein Hauptverdächtiger lebt in den USA.

In Chile ist das Thema Víctor Jara diese Woche in aller Munde. Medien erinnerten an die Geschichte des Liedermachers und Theaterregisseurs, der am 12. September 1973 mit hunderten Studierenden, Dozenten und Mitarbeitern der Technischen Universität festgenommen wurde. Seinen Tod fand er vier Tage später im Stadion von Santiago, das die Putschisten zum Konzentrationslager gemacht hatten. Wenige Tage später hätte er seinen 41. Geburtstag gefeiert. Die Leiche, die seine Frau am Folgetag identifizieren musste, wies zahlreiche Knochenbrüche, Brandwunden und 44 Einschusslöcher auf.

Während vier mutmaßliche Mörder ihres Mannes am Dienstag in das Gefängnis des Ersten Polizeibataillons gebracht wurden, trat Joan Turner de Jara vor die Presse – 39 Jahre danach, am Ort des Verbrechens, dem Stadion, das seit 2003 nach Víctor Jara benannt ist: »Es fällt mit schwer zu sprechen«, sagte die gebürtige Britin. Es sei kein Moment der Freude, sondern der Besinnung. Und der Erkenntnis, »dass noch viel Arbeit bevorsteht, um wahre Gerechtigkeit zu erreichen«.

Dabei hatten die Aktivistin und ihre beiden Töchter Manuela und Amanda jahrzehntelang auf diesen Moment gewartet: Erst jetzt geht die Justiz Chiles gegen die mutmaßlichen Mörder Víctor Jaras vor. Acht Haftbefehle hat der zuständige Ermittlungsrichter Miguel Vásquez erlassen. Oberst a.D. Hugo Sánchez Marmonti und Leutnant a.D. Pedro Barrientos Núñez wird die Ermordung Jaras zur Last gelegt, sechs weitere Ex-Militärs müssen sich wegen Beihilfe zu der Bluttat verantworten. Vier der Beschuldigten stellten sich am Mittwoch, zwei weitere am Donnerstag.

Dass der Mord an Víctor Jara nach vier Jahrzehnten Konsequenzen für die mutmaßlichen Täter hat, ist im Wesentlichen der Beharrlichkeit der Angehörigen und chilenischer Menschenrechtsorganisationen zu verdanken. Konkreter Anlass für die Staatsanwaltschaft war indes die Sendung »En la Mira« (Im Blick) des chilenischen Privatsenders Chilevisión. Mitte Mai hatte ein Rechercheteam berichtet, dass einer der mutmaßlichen Mörder, Pedro Barrientos, seit 1990 unbehelligt im US-Bundesstaat Florida lebt. Zugleich lieferte die Fernsehreportage Material für die Staatsanwaltschaft. Vor der Kamera sagte ein wegen des Jara-Mordes seit 2009 inhaftierter Ex-Militär aus, Barrientos habe »aus nächster Nähe« auf den internierten Sänger gefeuert, weil dieser nicht auf seine Fragen geantwortet habe. Dies habe Barrientos wohl »die Beherrschung verlieren lassen«, zitiert der lateinamerikanische Fernsehsender Telesur den damaligen Rekruten.

Der Rechtsanwalt der Familie Jara, Nelson Caucoto, erhebt angesichts der neuen Informationen schwere Vorwürfe gegen das Militär. »Seit 38 Jahren warten wir darauf, dass die Armee ihre Erkenntnisse über den Fall offenlegt, jedoch vergebens«, sagte der Jurist, der das Verdienst für die Haftbefehle alleine bei engagierten Richtern sieht. Nun stehe der Anklage viel Arbeit bevor, prophezeite auch Caucoto bei der Pressekonferenz am Dienstag: »Schließlich haben diese Individuen« – gemeint waren die inhaftierten Ex-Militärs – »heute gesetzliche Rechte, die Víctor nie hatte.«

Mit Spannung wird in Chile nun vor allem die Reaktion der US-amerikanischen Justizbehörden erwartet. Ermittlungsrichter Miguel Vásquez hat einen internationalen Haftbefehl gegen Barrientos erwirkt. Der streitet den neuen Erkenntnissen entgegen jede Schuld ab. Während sich bis zum Donnerstag sechs der übrigen sieben Beschuldigten gestellt haben, lehnt der Oberst a.D. es ab, zum Verhör in sein Herkunftsland zurückzukehren. Doch zumindest mit der unverdienten Ruhe im Exil ist es auch für Barrientos vorbei.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 05. Januar 2013


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