Die Verbrechen der Pinochet-Diktatur sind nicht zu leugnen
Exilchilenin María Cristina Miranda über die mühselige Aufarbeitung des Traumas in ihrer Heimat *
Mehr als zwei Jahrzehnte nach dem
Ende der Pinochet-Diktatur in Chile
werden immer noch Opfer gefunden
und identifiziert. Gerade erst hat man
die sterblichen Überreste des Schwagers
von María Cristina Miranda bestimmt.
Die Chilenin lebt seit 39 Jahren
im Exil in Deutschland. Mit ihr
sprach Harald Neuber.
Die sterblichen Überreste Ihres
Schwagers Lincoyán Berríos wurden
nach 36 Jahren in einem Foltergefängnis
des chilenischen Geheimdienstes
DINA gefunden. Hatten Sie damit noch gerechnet?
Eigentlich hatte ich keine Hoffnung
mehr. Als dann aber mit neuen
Methoden die Reste anderer Verschwundener
identifiziert wurden,
sind die Erwartungen auch bei uns
wieder geweckt worden.
Weshalb geriet Ihr Schwager
1976 in die Fänge der Pinochet-
Diktatur?
Er wurde wegen seiner kommunistischen
Aktivitäten verfolgt und
schließlich festgenommen. Lincoyán
gehörte der dritten geheimen
Führung der Kommunistischen
Partei Chiles während der
ersten Jahre der Diktatur an. Die
Mitglieder der ersten beiden Parteiführungen
waren von den Lakaien
der Pinochet-Diktatur bereits
ermordet worden.
Was bedeuten der Fund und die
Identifizierung für Sie und Ihre
Familien nach so vielen Jahren?
Die mutmaßlichen Reste meines
Schwagers waren schon vor fast
zehn Jahren gefunden worden.
Diese ganze Zeit war für unsere
Familie sehr schwer. Wir wussten
ja nicht mit Sicherheit, ob es sich
um Lincoyán handelt oder ob er es
doch nicht ist. Ich denke, dass die
Situation mit der vieler deutscher
Familien nach dem Zweiten Weltkrieg
vergleichbar ist, deren Ehemänner,
Söhne und Väter nicht
zurückkehrten. Sind sie noch am
Leben? Diese Frage verhallt dann
nicht. In unserem Fall bedeutet die
Identifikation Lincoyáns und vieler
Verschwundener, dass die Verbrechen
der Diktatur nicht zu
leugnen sind. Und das ist auch für
die jüngeren Generationen sehr
wichtig, für diejenigen, die am Ende
des Regimes oder danach geboren
wurden.
Nach der Identifizierung Ihres
Schwagers kann die Justiz nun
gegen die Mörder vorgehen. Planen
Sie entsprechende Schritte?
Darauf hoffen viele von uns Chilenen.
Einige der Verbrechen wurden
vor Gerichten verhandelt und
bestraft. Die Hauptschuldigen, die
bereits verurteilt wurden, sitzen
allerdings in goldenen Käfigen: in
Luxusgefängnissen, die ausschließlich
für sie errichtet wurden,
mit allen erdenklichen Annehmlichkeiten.
Es sind Hotel-Gefängnisse
mit fünf Sternen. Aber
damit nicht genug. Von dort aus
bestimmen sie nach wie vor die
repressive Politik der amtierenden
Regierung von Präsident Sebastián
Piñera. Und immer noch leben
viele Verbrecher. Andere wurden
enttarnt, mussten sich aber noch
keinem Gericht und keiner Gerechtigkeit
stellen.
Sie sind zur Zeit der Diktatur
nach Deutschland geflohen, wo Sie
bis heute leben. Was verbindet Sie
mit Chile?
Mit Chile verbinden mich die familiären
Bande und die Freunde,
die die Diktatur überlebt haben.
Und ich bin natürlich besorgt um
die Zukunft Chiles. Ich verfolge
aufmerksam den Kampf um alles,
was wir vor dem Militärputsch zur
Zeit der Regierung der Unidad Popular
angestrebt haben: Gerechtigkeit,
Gleichheit und ein Ende des
Elends so vieler Chileninnen und
Chilenen.
Deutschland ist allerdings nach
39 Jahren eine zweite Heimat für
uns geworden. Das Vaterland ist
schließlich dort, wo man lebt,
kämpft und liebt. Meine Kinder
sind in Deutschland aufgewachsen
und mein jüngster Sohn hat hier
eine Familie gegründet. Ohne
meine Kinder und meine Enkel
könnte ich nicht leben.
Welche Perspektive sehen Sie
für die Aufarbeitung der Verbrechen
der Diktatur unter dem derzeitigen
Präsidenten Sebastián
Piñera?
Auch wenn auf juristischem Gebiet
dank mutiger Richter einige Erfolge
erzielt werden konnten, gibt es
unter den Funktionären verschiedener
staatlicher Institutionen
nach wie vor eine große Angst.
Solange die Verfassung von Pinochet
in Kraft bleibt und solange einige
der linken Kräfte unter dem
politischen und finanziellen Einfluss
der internationalen Sozialdemokratie
stehen, wird sich daran
nichts ändern. Denn diese
Kräfte wollen nichts sein als die
Pfleger eines siechen Kapitalismus.
Unter diesen Bedingungen
wird die Aufklärung der Verbrechen
der Diktatur nur langsam voranschreiten.
* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 1. August 2012
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