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Stimme der Stimmlosen

Beim Freien Radio Lorenzo Arenas 104. FM in Chile stehen die Türen für Basisgruppen offen

Von Bettina Hoyer *

Seit dem Jahr 2000 ist in der chilenischen Universitätsstadt ein Community-Radio auf Sendung. Es gibt jenen eine Stimme, »die sonst keine Macht haben.«

Die jüngsten Radiomacher sind gerade einmal acht Jahre alt und gestalten Samstags ein Kinderprogramm. Die ältesten sind über siebzig. Es sind die Frauen des Colectivo de la memoria, einem »Kollektiv des Erinnerns«. Während der ersten Jahre der Pinochet-Diktatur waren sie aus politischen Gründen inhaftiert, jetzt machen sie Sendungen über den Wiederaufbau des Landes oder über Menschenrechte. »Insgesamt sind zwischen 30 und 40 Personen beim Radio aktiv. Sie sind in verschiedenen Gruppen organisiert und gestalten mit großer Autonomie ihre Programme«, erklärt der 44-jährige Leiter des Radios, Gabriel Rojas.

»Wer einen Platz im Radio haben möchte, muss sich uns vorstellen, dann gibt es eine Leitung, die zustimmt. Aber es gibt keinerlei inhaltliche Zensur«, unterstreicht Juan Schilling. Der 62-Jährige Journalist und Radioaktivist ging 1975 aus politischen Gründen ins Exil nach Venezuela und Schweden. Seit seiner Rückkehr ins Land im Jahr 1989 ist er in der Radiobewegung aktiv.

Vielfalt sei ihnen wichtig, Vernetzung und ein kollektives Selbstverständnis, betonen die beiden. Zu sechst entscheiden sie über die Belange des Radios, auch wenn Rojas formal der Leiter ist. Grundsätzlich könne jeder ohne Vorkenntnisse kommen und loslegen. Alle arbeiten ehrenamtlich, bis auf eine Person, die sich für »einen halben Mindestlohn von etwa 130 Euro im Monat täglich vier Stunden um administrative Aufgaben kümmert«, so Rojas. »Na ja, meist bleibt es nicht dabei, irgendwie bleibt man oft hier hängen«, diskutiert, frickelt an einer Sendung herum, trinkt doch noch einen Kaffee. Er zeigt auf eine Liege - falls es mal allzu spät wird, auch kein Problem.

Das Radio befindet sich in einem Nachbarschaftszentrum und ist auch Treffpunkt für die Bewohner des Viertels, »beispielsweise um darüber zu diskutieren, wie Identität von der Basis her geschaffen werden kann, von diesem Ort ausgehend: Lorenzo Arenas, Concepción«, erklärt Rojas.

Die Geschichte des Viertels »Lorenzo Arenas« begann im vorigen Jahrhundert mit einer Landbesetzung. Arbeiter, öffentliche Angestellte, Lehrer und Gewerkschafter zogen dort hin und prägten das Viertel. Heute gehört der Stadtteil zum historischen Kern der Stadt. Dort hat das Freie Radio Lorenzo Arenas 104. FM seinen Sitz. »Wir haben uns dafür eingesetzt, dass hier Leute dabei sind, die Musik machen, Dichten, Leute die Schreiben, die in den sozialen Bewegungen aktiv sind, feministische Gruppen, Jugendliche - eine möglichst große Vielfalt. Die Leute können hier zusammenkommen. Aus dieser Erfahrung des Dialogs können Diskurse und Praktiken entstehen, die es uns ermöglichen, gemeinsam eine Gesellschaft zu schaffen, die anders ist als jene, in der wir leben«.

Wem die Türen bei Radio Lorenzo Arenas offen stehen, das werde nicht an ideologischen Grenzen festgemacht, unterstreicht Juan Schilling: »Es soll ein Medium für jene sein, die keine Macht haben. Das kann man in Begriffen von Ideen durchdeklinieren, aber mir erscheint es krass, Ideen irgendeiner Art auszuschließen. Deshalb bevorzuge ich Überlegungen, bei der man sich den Sektor der Leute anschaut. Wir denken nicht alle dasselbe und es ist ein Geschenk, dass verschiedene Visionen innerhalb desselben Raumes miteinander leben können. Ein Beispiel: Hier gibt es die Kuba-Soligruppe. Und es gibt eine Gruppe von Anarchisten. Deren Auffassungen sind miteinander nicht sehr kompatibel. Aber beiden Gruppen stehen hier die Türen offen, weil wir anerkennen, dass sie zu jenem Sektor gehören, der keine Macht hat«.

Im Jahr 2004 gab es einen Anschlag auf das Radio, Equipment wurde gestohlen und verbrannt, weil »wir eine politische Position vertreten und wir kein staatliches Medium sind«, meint Rojas. »Aber viele von uns haben die Diktatur mit erlebt. Wir haben Vorsichtsmaßnahmen getroffen«, unterstreicht er. Letztes Jahr sei den Radioleuten aufgefallen, dass besonders viele Zivilpolizisten vorbeigeschaut hätten.

Nach dem Erdbeben 2010 wurde die Lebensmittelversorgung im Stadtteil über das Radio mitorganisiert - gleichzeitig blieb man trotz 15 kaputter Fensterscheiben auf Sendung. Kurz vor der Naturkatastrophe »berichteten wir über ›unser ganz persönliches Erdbeben‹, einen Brand im Einkaufszentrum ›Vega Monumental‹, einem lokalen Markt, direkt gegenüber vom Radio«, erzählt Gabriel Rojas. »Rund 1500 Menschen sind damals von einem Tag auf den anderen arbeitslos geworden. Mittlerweile ist erwiesen, dass der Brand im Auftrag von Investoren gelegt wurde.«

Das Radio sei zu einer Art Scharnier im Viertel geworden. Es ist Mitglied im »Lokalen Rat für Entwicklung«, wo zivilgesellschaftliche Gruppen mit den Behörden Themen besprechen, die von allgemeinem Interesse für den Stadtteil sind. »Die Kommunikation ist für uns ein Werkzeug, kein Zweck an sich. Unser Ziel ist etwas anderes, ein politisches«, so Rojas. »Wir wollen eine Transformation, eine Veränderung - und das Radio hilft uns dabei. Das Radio muss offen sein, mit all seinen Sinnen offen, um auf allen Ebenen kämpfen zu können. So sehe ich unsere Arbeit im Radio«.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 17. Juli 2012


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