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In Chile entsteht eine neue Bewegung

Die Studentinnen Camila Vallejo und Karol Cariola sowie der Gewerkschafter Jorge Murúa über soziale Proteste in ihrer Heimat *


Bildungsproteste haben Chile in Bewegung versetzt. Die Repression gegen Schüler und Studenten (Foto oben) stieß auf breite Ablehnung. Auf Einladung der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und der Rosa-Luxemburg-Stiftung schildern Sprecherinnen der chilenischen Studierenden und ein Vertreter des Gewerkschaftsdachverbandes CUT in Deutschland die Bildungsproteste in Chile: Camila Vallejo, Jorge Murúa und Karol Cariola (unten: v. l. n. r.) berichten heute 19 Uhr im Audimax der Humboldt-Universität in Berlin, Unter den Linden 6, 10117 Berlin. Vorab sprach mit ihnen für »nd« Knut Henkel.


nd: Die Bilder der Studentenproteste in Chile gingen im letzten Jahr rund um den Globus. Wie ist die derzeitige Situation und was ist der Grund der Reise durch Deutschland?

Karol Cariola: Oh, wir sind eine Gruppe von drei jungen Chilenen, die über unser Land informieren wollen. Wir wollen der Welt zeigen, dass hinter den Studentenprotesten, die im letzten Jahr international für Aufmerksamkeit gesorgt haben, eine soziale Bewegung steht. Die stellt nicht die Privatisierungen im Bildungssystem in Frage, sondern das ganze neoliberale Modell. Wir wehren uns gegen die Hegemonie des Kapitalismus und wir haben kollektive Strukturen des Widerstands geschaffen. In Chile entsteht eine neue politische Bewegung mit Perspektive.

Dann geht es also um strukturelle Veränderungen ...

Karol Cariola: Ja, Ziel ist es, die gesellschaftlichen Strukturen in Chile zu verändern. Wir stellen die Institutionen in Frage, denn wir leben seit Jahrzehnten unter einer Pseudodemokratie, die unter der Pinochet-Diktatur eingerichtet wurde. Wir fordern die Modifizierung der Wahlgesetzgebung, das Ende der Privatisierung der Bildung, des Gesundheitssystems und zahlreicher weiterer staatlicher Dienstleistungen.

Gibt es für das Jahr 2012 ein zentrales Ziel?

Camila Vallejo: Die Rekonstruktion der sozialen Netze. Sie haben sich unter der Ägide der Concertación (Bündnis der Mitte-Links-Parteien in Chile) nie wieder erholt. Derzeit gibt es eine Wiederbelebung - nicht nur auf organisatorischer, sondern auch auf politisch-programmatischer Ebene. Es sind konkrete Forderungen im Zuge der Bildungsproteste entwickelt worden - die Forderung nach Demokratisierung, nach einer Steuerreform und dem politischen Wechsel. Das sind klare Prämissen und nun geht es darum, zu diskutieren, wie dieser Wechsel erreicht und welche Aktionsmuster dafür eingesetzt werden können.

Täuscht der Eindruck, dass 2011 das Fass schlicht übergelaufen ist ...

Karol Cariola: Nein, große Teile der Bevölkerung haben die Nase voll. Sie sind nicht mehr bereit, noch weitere Zugeständnisse zu machen, und so haben sich dem Widerstand gegen die Privatisierung im Bildungssektor nicht nur Studenten angeschlossen.

Auffällig ist, dass nicht nur in Chile gegen die zunehmende Privatisierung der Bildung protestiert wurde, sondern auch in Kolumbien, Peru, Argentinien oder Brasilien. Gibt es einen Multiplikator-Effekt?

Camila Vallejo: Die Reformen im Bildungssektor, ob in Chile oder Kolumbien, haben die gleiche Basis. Ihre Grundlage ist das neoliberale Modell und unter der Privatisierungsstrategie haben wir in Chile seit 30 Jahren zu leiden. Dieses Modell wurde auf andere Länder übertragen - in Lateinamerika und im Rest der Welt. Der Widerstand gegen dieses Modell materialisiert sich derzeit in Studentenbewegungen in der ganzen Region. Wir nehmen unser Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit in Anspruch.

Karol Cariola: Der Zeitpunkt ist gut gewählt, denn der Kapitalismus steckt weltweit in der Krise. Die Proteste in Chile, dem Vorreiter des Neoliberalismus in Lateinamerika, zeigen doch nur, dass es nicht mehr als Selbstverständlichkeit hingenommen wird, dass man für seine Ausbildung zahlen muss, dass das Gesundheitssystem kostenpflichtig und die Universität ein teures Vergnügen ist. All das wird in Frage gestellt und es wird verglichen.

Innerhalb Lateinamerikas ...?

Karol Cariola: Innerhalb und außerhalb, denn schließlich bewegt sich auch in Spanien die soziale Schere auseinander. Dort ist die Krise ja quasi greifbar.

Gibt es denn Alternativmodelle und welche Bedeutung kommt dabei der Bildung zu?

Jorge Murúa: Die Bildung ist ein Grundrecht und ohne dieses Grundrecht ist eine Gesellschaft weniger frei, weniger kreativ. Die Bildung darf nicht dem Markt überantwortet werden, denn es hat sich bereits gezeigt, dass das in die Sackgasse führt. In Chile werden junge Menschen ausgebildet, die dann trotzdem keine Arbeit finden. Eine Folge des ökonomischen Modells, dem hier in den letzten 30 Jahren alles untergeordnet wurde - es führt in die Sackgasse.

Wie denken Sie über alternative Ansätze wie in Bolivien oder Ecuador?

Camila Vallejo: Wir schauen uns um, was wir von anderen Ländern lernen können, wollen aber unser eigenes Modell entwickeln. Grundsätzlich begrüßen wir es, wenn Länder das Grundrecht auf Bildung akzeptieren und es in die Realität umsetzen. Wir brauchen in Chile ein Bildungssystem, das unserem Entwicklungsstand und unseren Bedürfnissen angepasst ist. Es ergibt keinen Sinn, etwas zu kopieren, es hat aber Sinn, etwas Eigenes zu entwickeln, das Erfahrungen anderer Länder berücksichtigt. Unser Bildungssystem sollte sich stetig weiterentwickeln, es sollte pluralistisch, demokratisch, kostenlos, multikulturell sein - das sind universelle Prinzipien, die in Chile endlich wieder Realität werden sollen. Dazu gehört natürlich auch die Frage nach der Autonomie der Bildungsinstitutionen, des Zugangs und so fort, und dabei gefallen uns Elemente des Bildungssystems in Uruguay, Bolivien oder Ecuador, wo es zahlreiche Veränderungen gibt. Aber grundsätzlich wollen wir unser eigenes Bildungssystem entwickeln.

Bisher gibt es in Chile ein gemischtes Bildungssystem. Soll sich das ändern?

Camila Vallejo: Derzeit haben wir ein privates Bildungssystem mit einem öffentlichen Anhang, der weitgehend zusammengebrochen ist. Das sind in etwa die gleichen Verhältnisse wie in Kolumbien. Wir wollen aber ein öffentliches Bildungssystem, das in allen Regionen präsent ist und demokratische Strukturen hat, pluralistisch und multikulturell ist.

Karol Cariola: Wir betrachten das Bildungssystem aber nicht isoliert vom Rest der chilenischen Gesellschaft, deshalb ist eine Steuerreform unabdingbar. Das ist fundamental, denn die Individuen zahlen derzeit einen höheren Steuersatz als die Unternehmen. Wir leben in einer verkehrten Welt in Chile und müssen die Strukturen unserer Gesellschaft ändern und die extreme Ungleichheit reduzieren. Eine dritte Forderung von unserer Seite ist die Reform der Wahlgesetzgebung ...

Warum? Fördert sie bestimmte Parteistrukturen?

Karol Cariola: Das von der Pinochet-Diktatur eingeführte Wahlsystem sorgt faktisch dafür, dass die Linke von den Entscheidungsprozessen ausgeschlossen wird. Das binominale Wahlsystem schafft faktisch eine Zwei-Parteienlandschaft, die Rechte Alianza und die Concertación. Wir sind der Meinung, dass die Linke ebenfalls in dem System stattfinden muss, auch wenn sie nicht sonderlich groß ist.

Jorge Murúa: Obendrein verbietet die Verfassung, dass Parlamentarier sich gewerkschaftlich betätigen - die Arbeiter sind faktisch vom Parlament ausgeschlossen. Das war ein Einfall der neoliberalen Chicago Boys, die Pinochet das Wirtschaftskonzept lieferten, unter dem unsere Gesellschaft bis heute leidet.

Die Studentenproteste haben international Schlagzeilen gemacht. Ist das Medieninteresse groß genug, um die Forderung nach grundlegenden Reformen in Chile zu transportieren?

Camila Vallejo: Die Medien sind hier in den Händen großer Wirtschaftsakteure und sie folgen oft politischen Zielen. Gleichwohl hat es viel Berichterstattung über die Proteste gegeben. Allerdings eine nachholende, denn die meisten Studenten informieren sich über alternative Medien, über Facebook, kritische Internetseiten und Blogs oder kommunale Radios, die allerdings oft von der Regierung drangsaliert werden. Außerdem interessiert sich die Regierung mehr und mehr für die Sozialen Netzwerke und versucht, dort auch präsent zu sein - das ist ein Risiko.

* Aus: neues deutschland, 8. Februar 2012


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