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Pinochet hat Chile vergiftet

Präsidentschaftskandidat Marco Enríquez-Ominami über die Reformbedürftigkeit des politischen Systems im Andenstaat

Marco Antonio Enríquez-Ominami wurde wenige Monate vor dem Putsch Pinochets 1973 geboren. Sein Vater Miguel Enríquez war Führer der marxistisch-leninistischen Bewegung der Revolutionären Linken (MIR) und wurde 1974 vom Geheimdienst der Diktatur DINA erschossen. Marco verbrachte fast seine gesamte Kindheit in Frankreich. Er studierte Philosophie in Chile, danach ging er Mitte der 90er wieder nach Frankreich und lernte das Filmemachen. Im Dezember 2005 wurde er als Abgeordneter ins Parlament gewählt. Mit ihm sprach für das Neue Deutschland (ND) Jürgen Vogt.



Herr Enríquez-Ominami, sind Sie ein Linker?

Ein fortschrittlicher Linker.

Nachdem Sie ihre Kandidatur verkündet haben, sind Sie abgegangen wie eine Rakete. Fast aus dem Stand heraus kamen Sie auf 13 Prozent. Wie erklären Sie sich diesen Erfolg?

Mein erster Wahlslogan war: Chile hat sich verändert. Also nicht nur, dass sich Chile verändern muss, sondern dass es sich bereits verändert hat. Dagegen irrt sich die Mitte-Links- Regierungskoalition Concertación, wenn sie vorgibt, Chile hätte sich zwar verändert, aber man könne noch immer Politik machen wie in der Zeit um 1988. Über vieles wurde und wird nicht gesprochen. Wir bieten eine neue Form des Politikmachens: mutig, ehrlich, glaubwürdig. Das ist nichts Neues in der Welt, aber neu für die politische Klasse in Chile. Dieser Mut wird von den Menschen honoriert. Heute ist mein Slogan: Chile muss sich verändern.

Was ist außer dem Slogan die Strategie ihrer Kampagne für die Präsidentschaft?

Die Glaubwürdigkeit in den Auftritten und in den Fernsehspots. Ich leite die Kampagne selbst. Und da habe ich schon einige Fehler zugegeben, sofort. Das hat viele in Chile überrascht. Das ist neu, dass einer kommt und sagt, ja da habe ich mich geirrt. Die Menschen sind hier an die Monarchen im Präsidentenamt gewöhnt, die sind unfehlbar. Ein chilenischer Politiker gibt keine Fehler zu. Darüber hinaus sind Twitter und Internet ebenfalls enorm wichtig. Ich twitter den ganzen Tag. Das zweitgrößte soziale Netz in Chile ist bei Facebook und twittert. Das sind 26 000 Menschen, enorm viel für Chile.

Warum sollen die Chilenen Marco Enríquez-Ominami wählen und nicht die Concertación?

Die Concertación ist in der Hand einer kleinen Führungsgruppe, die keinerlei Reformen will. Selbst als die Regierung von Präsidentin Michelle Bachelet die Bildungsreform machen wollte, hat sich diese Gruppe dagegen gestellt. Ebenso blockieren sie die Reform des politischen Systems und des Wahlrechts. 1988 war die Concertación doch gerade mit diesen drei Vorschlägen ins Leben gerufen worden. In den 20 Jahren ihrer Regierung hat die Concertación viele gute Sachen gemacht, aber heute glaubt die Führungsriege, auf Reformen verzichten zu können.

Aber Sie sehen sich doch in der Linie von Michelle Bachelet?

Ja, aber die Präsidentin selbst hat in einer ihrer letzten Reden, das Fehlen der Reform des politischen Systems und der Bildungsreform angeprangert. Deshalb der Slogan: Chile muss sich verändern.

Was bieten Sie den Wählern?

Unser Programm hat drei tragende Säulen. Erstens, die Reform des politischen Systems, also weg von der Präsidentenmonarchie hin zu einen System mit Präsident und Premierminister. Dazu mehr Föderalismus, ein Parteiengesetz mit obligatorischen öffentlichen Vorwahlen für die Kandidaten, und schließlich ein neues Wahlgesetz, das mit der festgeschriebenen Zwei-Parteien-Herrschaft Schluss macht. Zweitens eine Reform des Bildungswesens, das heißt staatlich und kostenlos. Und drittens, um das alles zu finanzieren, eine umfassende Steuerreform. Wer viel hat, soll auch mehr Steuern zahlen als die, die wenig haben. Ich bin der einzige, der das vorschlägt, auch technisch, denn ich habe klar gesagt, wie viel, von wem und in welcher Form wir Steuern erheben wollen.

Aber auch gerade deswegen wird Ihnen doch politische Naivität vorgeworfen.

Der Unterschied zwischen meiner Kandidatur und der der anderen ist, dass ich als Parlamentsabgeordneter bereits 180 Gesetzesvorhaben eingebracht habe. Dagegen hat Eduardo Frei, der Kandidat der Concertación, der schon 13 Jahre Senator ist, ganze 20 Gesetzesentwürfe präsentiert. Der Kandidat der Rechten, Sebastián Piñera, bedeutet Rückschritt. Er verspricht Sachen, die er nicht halten kann, missbraucht die Republik. Er ist ein Mann ohne Wahrheit.

Als unabhängiger Kandidat haben Sie aber keine Partei hinter sich. Wie also wollen Sie ihre Vorhaben umsetzen?

Als Präsident werde ich einen Bund vorschlagen, der all die Programmpunkte bündelt und in ein Regierungsprogramm verwandelt. In der chilenischen Präsidentenmonarchie gibt es immer Möglichkeiten, Verbündete zu finden. Der Präsident hat in Chile reale Macht.

Was machte ein Präsident Enríquez-Ominami außenpolitisch?

Wiederum drei Säulen. Erstens, Schwerpunkt auf die Beziehungen zu den Nachbarländern legen. Zweitens, die regionale Integration weiter vorantreiben. Und drittens, nicht alles, was aus den USA kommt, ist gut für Chile. Hugo Chávez beispielsweise verteidigt eine multipolare Welt und das gefällt mir. Ebenso sein Diskurs über die Rolle des Staates bei der Bekämpfung der Armut. Chávez hat aber auch Erklärungen abgegeben, die mir missfallen, dennoch gehe ich nicht konform mit der Karikatur, die viele Medien aus ihm machen.

Sie sind im Juni 1973 geboren, wenige Monate vor dem Militärputsch von Augusto Pinochet. Was bedeutet das für Sie heute?

Die Diktatur hat mich schwer getroffen. Ich bin Sohn, Bruder, Cousin, Neffe und Enkel von Opfern der Diktatur. Mein Vater Miguel Enríquez und mein Bruder Miguel wurden ermordet, zwei Onkel sind verschwunden, drei meiner Großeltern wurden gefoltert oder ins Exil getrieben. Ich hege keinen Groll, sondern nur Entschlossenheit. Ich habe einen Gesetzesentwurf zur Aufhebung der Amnestiegesetze eingebracht. Pinochet hat Chile vergiftet. Aber Vorsicht: Pinochet-Anhänger zu sein, macht dich noch nicht zum Rechten. Dazu existiert der Glaube, wer gegen Pinochet ist, ist auch links. Aber nur gegen Pinochet zu sein, macht auch niemanden automatisch zum Linken.

* Aus: Neues Deutschland, 10. Dezember 2009


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