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Führungswechsel auf Chinesisch

Der Plan eines geordneten Übergangs von einer Generation zur nächsten ist arg durcheinander geraten

Aus Peking berichtet Lutz Pohle *

Vom 8. bis 14. November tagt in Pekings »Großer Halle des Volkes« der 18. Parteitag der KP Chinas. Er wird eine neue Führung für die größte politische Partei - und das bevölkerungsreichste Land der Erde - bestimmen. Erwartet werden jedoch auch Richtungsentscheidungen: Wie wird sich China im nächsten Jahrzehnt entwickeln, welche Prioritäten setzt die neue Führungsgeneration?

Die Straßenbrücke, über die ich in Peking mehrfach in der Woche gehe, ist seit dem Wochenende bewacht. Der alte Mann, der dort in der einsetzenden Pekinger Kälte friert, trägt eine Armbinde mit der Aufschrift »Freiwilliger«. Als ich ihn frage, warum er allein auf der Brücke Posten bezogen habe, antwortet er: »Diese Woche beginnt doch der Parteitag der KP. Wir helfen, dass nichts passiert.« Die Freiwilligen - meist ältere, von der Partei oder den Wohngebietskomitees Beauftragte - sind in der ganzen Stadt präsent. Nichts wird dem Zufall überlassen, der Parteitag muss reibungslos ablaufen. Im Sportstudio zum Beispiel läuft auf den Flachbildfernsehern nur noch »Mäusekino«. Wo sonst internationale Programme die Trainingszeit verkürzen, steht jetzt »No Signal«. »Die Regierung hat angeordnet«, sagt die Dame am Tresen, »dass während des Parteitags CNN, BBC und andere Sender in Pekings Öffentlichkeit abgeschaltet werden.« Und das Internet? Es ist gefühlt noch langsamer als sonst. Fragt man nach, bekommt man meist nur ein Schulterzucken: Es ist halt Parteitag in Peking!

Über 80 Millionen der 1,3 Milliarden Chinesen sind in der KP Chinas organisiert. Mehr Mitglieder hat keine andere Partei der Welt. 2270 Delegierte sind diese Woche nach Peking gekommen, um wie alle fünf Jahre statutengemäß über den Kurs der Partei zu diskutieren und abzustimmen. Und da die Amtszeiten vieler Funktionsträger abgelaufen sind oder die Altersgrenze erreicht ist, steht ein umfassender Führungswechsel bevor. Allein im Ständigen Ausschuss des Politbüros, dem höchsten Gremium, sind sieben von neun Sitzen neu zu besetzen.

Seit Jahren geplant war ein geordneter Übergang. Allein, durch die Skandale der vergangenen Monate ist der Plan arg durcheinander geraten. Zwei Anwärter auf Chefposten sind in schlagzeilenträchtigen Auseinandersetzungen ausmanövriert worden: Chongqings ehemaliger Bürgermeister Bo Xilai, aussichtsreicher Kandidat für einen Sitz im engsten Führungskreis, wurde wegen »schwerer Verstöße gegen die Parteidisziplin« aus der KP ausgeschlossen, seine Frau wegen Mordes zum Tode mit Bewährungschance verurteilt. Auch die einstige rechte Hand von Partei- und Staatschef Hu Jintao, sein Sekretär Ling Jihua, musste wegen eines dubiosen Ferrari-Unfalls seines Sohnes alle Hoffnungen auf einen Spitzenplatz begraben.

Selbst Premier Wen Jiabao geriet in die Kritik, als die »New York Times« eine Aufstellung der Vermögen und wirtschaftlichen Positionen seiner Familienangehörigen veröffentlichte. Der Bericht, der das Ansehen des beliebten Regierungschefs schwer beschädigt hat, konterkariert die Versuche der Partei, die grassierende Korruption im Land zu bekämpfen. In Peking wird hinter vorgehaltener Hand gemunkelt, dies sei die Rache der Anhänger Bo Xilais für das harte Vorgehen gegen ihren Favoriten gewesen.

Schließlich sorgte der designierte Nachfolger des Parteivorsitzenden selbst für Verwirrung: Vizepräsident Xi Jinping war systematisch zum Erben der Spitzenämter in Partei und Staat aufgebaut worden. Als er im September zwei Wochen nicht in der Öffentlichkeit gesichtet wurde, blühten die Spekulationen über die Gründe. Inzwischen ist Xi wieder da - ohne ein offizielles Wort der Erklärung für seine zeitweilige Abwesenheit. Es wäre indes eine Riesensensation, wenn Xi Jinping nicht zum neuen Parteichef gewählt werden würde, um im März auch das Amt des Staatspräsidenten zu übernehmen und in die Riege der mächtigsten Politiker der Welt aufzusteigen.

»Es gibt viele konkurrierende Ideologien innerhalb und außerhalb der Partei vor und während jedes Parteitages«, sagte Prof. Li Jingtian von der Zentralen Parteihochschule in Peking. Einiges bleibe allerdings unantastbar, ergänzte sein Kollege Xie Chuntao, und das seien grundlegende Prinzipien, was beispielsweise die Geschichte der Partei oder den Parteiaufbau betrifft. Was darüber hinaus noch damit gemeint ist, ließ er im Unklaren.

Was wird zum Beispiel aus dem »Aufbau einer harmonischen Gesellschaft«, der auf dem letzten Parteikongress beschlossen wurde? In Pekings Straßen sind Transparente zu sehen, auf denen dazu aufgerufen wird, den Aufbau einer solchen Gesellschaft weiterzuführen. Bekannt ist jedoch, dass viele soziale Probleme im Lande nicht gelöst sind, sondern sich augenscheinlich verschärft haben. Die Schere zwischen Arm und Reich, zwischen entwickelten und rückständigen Gebieten hat sich weiter geöffnet. Bildungs- und Gesundheitssystem müssen dringend reformiert werden. Die Gesellschaft altert rapide, aber der Aufbau von Sozialversicherungs- und Rentensystemen kommt nicht schnell genug voran. Derweil haben sich die wirtschaftlichen und politischen Gegebenheiten national und international gravierend verändert. Die Krisen des Westens haben China erreicht. Der Export ist eingebrochen, das Wirtschaftswachstum geht zurück. Erstmals seit Jahren sind die Wachstumsraten unter 8 Prozent gefallen. Doch jeder Zehntelpunkt weniger bedeutet Millionen Arbeitslose mehr, bedeutet, dass weniger verteilt werden kann und dass immer mehr Menschen leer ausgehen. Damit wächst das Potenzial für »Vorfälle mit Massencharakter«, wie Prof. Yu Jianrong von der Pekinger Akademie für Sozialwissenschaften die Unruhen und Streiks nennt, die Ausbrüche von Unzufriedenheit und Gewalt, die bedrohlich zugenommen haben.

Dagegen steht die lange Liste von Erfolgen und Fortschritten, die sich die Partei zugute halten kann. 30 Jahre wirtschaftliches Wachstum haben China grundlegend verändert. Das Bruttoinlandsprodukt hat sich vervierfacht, 200 Millionen Menschen wurden aus der Armut befreit. Aus einem rückständigen Agrarland ist ein modernes Industrieland geworden. Der »kleine Wohlstand« für alle ist keine ferne Utopie mehr, sondern für große Teile des Landes Realität. China wird heute in einem Atemzug mit den USA genannt, wenn es darum geht, die großen Probleme der Welt zu lösen - Klima, Umwelt, Rohstoffe, Energie, Bevölkerung, Entwicklung ... Verständlich, dass die Chinesen sehr stolz darauf sind.

Weltweit werden Hoffnungen gehegt, dass der chinesische Weg eine Alternative zu Neoliberalismus und Raubtierkapitalismus sein könnte. »Die KP muss den Übergang von einer ›revolutionären‹ zu einer ›regierenden Partei‹ bewältigen«, erklärt man in der Internationalen Abteilung des ZK in Peking. Habe früher der Klassenkampf im Mittelpunkt der Arbeit gestanden, sei es heute der Aufbau des Landes, bei dem die Interessen möglichst aller Chinesen berücksichtigt werden und China seiner neuen Rolle in der Welt gerecht wird. Das sei allerdings ungleich schwieriger.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 08. November 2012

Zahlen und Fakten

  • Chinas Einwohnerzahl belief sich 2011 auf 1,348 Milliarden bei einem Bevölkerungszuwachs von jährlich 0,45 Prozent.
  • 2002 noch auf Platz 6 der größten Volkswirtschaften der Welt, stieß China 2010 auf den 2. Rang vor. 2011 betrug das Bruttoinlandsprodukt (BIP) 7298 Milliarden US-Dollar (USA: 15 094 Mrd., BRD: 3577 Mrd.)
  • Pro Kopf der Bevölkerung machte das 5432 US-Dollar aus (USA 48 387 $, BRD 43 742 $).
  • Die KP Chinas hat 81 Millionen Mitglieder. 2270 Parteitagsdelegierte wählen 200 Mitglieder und 160 Kandidaten des Zentralkomitees, das wiederum voraussichtlich am 15. November das Politbüro und dessen Ständigen Ausschuss bestimmt. 14 von zuletzt 24 Mitgliedern des Politbüros und sieben von bisher neun im Ständigen Ausschuss werden ausscheiden.



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