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Vor gewaltigen Herausforderungen

Die Kommunistische Partei Chinas hat eine neue Führung. Sie wird Antworten auf etliche Probleme finden müssen

Von Sebastian Carlens *

Wenige Wochen vor Beginn des 18. Parteitages der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) wurde der Funktionär Yang gefeuert. Yang, der in der Provinz Shaanxi für Arbeitsplatzsicherheit zuständig war, hatte vorher im chinesischsprachigen Internet Unmut erregt, als er sich grinsend vor einem verunglückten Bus fotografieren ließ. Doch nicht die unpassende Geste, sondern sein Handgelenk sollte dem Mann zum Verhängnis werden: Dort trug der Beamte eine Rolex Date¬just, Kaufpreis knapp 6000 Euro. Auf »Weibo«, einem populären chinesischen Internetdienst, fiel das jemand auf. Andere Nutzer sammelten weitere Bilder von Yang, die alle eines gemeinsam hatten: jeweils wechselnde, immer teurere Luxusuhren. Elf verschiedene Exemplare zählten die sogenannten »watchmen« bei Yang, darunter eine IWC Portugieser und eine Vacheron Constantin. Gesamtwert: Das zehnfache Jahreseinkommen eines chinesischen Arbeiters (rund 5000 Euro laut People’s Daily vom Dezember 2011). Am 26. September verlor der gierige Beamte schließlich seinen Job. Seine Geschichte ist nicht die einzige, die man erzählen könnte, um einen neuen Trend in China zu beschreiben: Aus luxuriösen Statussymbolen, die Reichtum und Erfolg zeigen sollen, sind wahre Risiken für ihre Besitzer geworden. Ein Kommunalbeamter beispielsweise stürzte über eine teure Schachtel Importzigaretten, die er während einer Sitzung vor sich auf den Tisch legte – aufmerksamen Lesern fiel sie auf einem Bild auf, die chinesische Netzgemeinschaft begann nachzubohren. Das Resultat: Der Mann hatte sich dank seiner beruflichen Position Dutzende Eigentumswohnungen unter den Nagel reißen können. Auch er verlor seinen Job.

Die allgegenwärtige Korruption sei das Problem, dem sich die KPCh vorrangig stellen müsse, mahnte der ehemalige Generalsekretär Hu Jintao, als er vor dem 18. Parteitag seinen letzten Rechenschaftsbericht hielt. Er sparte nicht an kräftigen Vokabeln, um den Ernst der Lage deutlich zu machen: Der stete Vertrauensverlust der Bevölkerung bezüglich der politischen und administrativen Führung des Landes könne die Herrschaft der Partei und die Stabilität des Staates gefährden. Nun ist Hu nicht der erste, der die Problematik offen anspricht: Schon Deng Xiaoping warnte immer wieder vor Bereicherungslust und Bestechlichkeit. Seitdem gehört der Appell, die Reihen der Partei »sauber zu halten«, zum Repertoire jedes Parteitages. Doch diesmal ist alles etwas anders gewesen, als die KPCh vom 8. bis zum 14. November in Beijing tagte: Kurz zuvor war Bo Xilai, der einstige Bürgermeister von Chongqing, der mit einem bunten Mix aus »neomaoistischen« Parolen und populistischen Maßnahmen seine Karriere befeuern wollte, aus der Partei ausgeschlossen worden. Als Grund gab die Disziplinkontrollkommission der Partei unter anderem »Bestechlichkeit« an. Zwar stürzten auch vorher schon Minister und Bürgermeister über Korruptionsskandale, doch Bo hatte sich noch wenige Monate zuvor Hoffnung gemacht, beim 18. Parteitag in die engste Führung, den Ständigen Ausschuß des Politbüros, gewählt zu werden.

Der neue Ständige Ausschuß ist mit sieben Mitgliedern um zwei Personen verkleinert worden. Auch Wang Yang, der Parteichef der ökonomisch wichtigen Provinz Guangdong, hat es nicht in das Gremium geschafft. Wang, der ausgewiesene Reformer, gilt als eine Art Pendant zu Bo Xilai. Ob die beiden wegrationalisierten Plätze im Ausschuß eigentlich für Bo und Wang gedacht waren, wird unbekannt bleiben. Zumindest aber ist die Ausgewogenheit gewahrt – die Parteiführung dürfte kaum durch massive Differenzen zweier rivalisierender Fraktionen geschwächt werden. In einem Gremium, das nach Konsensprinzip entscheidet, eine entscheidende Weichenstellung. Der langfristige Leitfaden, den sich die KPCh bereits in den 80er Jahren unter Deng gab, wird auch unter dem neuen Generalsekretär Xi Jinping weiterhin gelten. Die Industrialisierung, die in China nach wie vor in vollem Gange ist, soll von der Ostküste in die Zentralprovinzen weiterwandern, die Leichtindustrie dabei sukzessive durch immer komplexere Produktionszweige abgelöst werden (siehe unten). Xi und seine Mannschaft werden auch an der größten Baustelle weiterarbeiten müssen, die ihnen ihr Vorgängerteam hinterlassen hat: Dem Aufbau eines sozialen Absicherungssystems und einer zentralen Gesundheitsversorgung. Waren es früher die (staatlichen) Kombinate und Großbetriebe, die Rente, Wohnung und Vorsorge ihrer Arbeiter und Angestellten regelten, entstanden hier seit den Privatisierungswellen in den 80er und 90er Jahren große Lücken: Nicht nur die Landbevölkerung, auch immer mehr Städter wurden von ihren Unternehmen nicht mehr »aufgefangen«. Mit der Einrichtung eines Rentensystems auch für die 800 Millionen Chinesen, die auf dem Land leben, ist bereits ein erster wichtiger Schritt getan. Eine allgemeine Lohnerhöhung um rund 30 Prozent im vergangenen Jahr konnte die entstandene soziale Kluft ebenfalls etwas verkleinern. Doch Wirtschaftswachstum alleine wird die Probleme kaum lösen können.

Entgegen der bisherigen Gepflogenheiten wurde Xi, der auf dem nächsten Nationalen Volkskongreß im März nächsten Jahres auch den Posten des Staatspräsidenten übernehmen wird, bereits während des Parteitages die Leitung der Zentralen Militärkommission, also das Oberkommando über die Volksbefreiungsarmee, übertragen. Mit mehr Macht als ihre Amtsvorgänger versehen steht die neue Parteiführung, die »fünfte Generation« der Volksrepublik nach Staatsgründer Mao Zedong, vor gewaltigen Aufgaben. Daß es dabei durchaus Fortschritte gibt, bestätigt ausgerechnet die Schweizer Luxus¬uhrenindustrie: Die aktuellen Verkaufszahlen der Fédération de l’industrie horlogère verraten, daß der Export teurer Uhren nach China massiv eingebrochen ist – nur 1,1 Prozent Zuwachs gegenüber dem Vorjahr; weltweit lag die Zahl immerhin bei 13 Prozent. Rolex ist zum Karrierekiller geworden; weil die Bevölkerung genau hinschaut und sich neuer Medien bedient – und weil die Partei reagiert. Auch das ist Klassenkampf.

* Aus: junge Welt, Samstag, 17. November 2012

Hintergrund: Die fünfte Generation

Vor drei Tagen wählte das neue Zentralkomitee der KPCh eine neue Führung – die »fünfte Generation« der Volksrepublik China. Nach den Revolutionären um Mao Zedong, die 1949 die Volksrepublik ausriefen, zählen die Chinesen Deng Xiaoping, der ebenfalls noch selbst Teilnehmer der Befreiungskriege, des langen Marsches und der Republiksgründung war, zur »zweiten Generation«. Danach folgten Jiang Zemin und der Premier Li Peng. Mit Hu Jintao und dem jetzigen Premier Wen Jiabao kam 2002 die erste kollektive Führung ohne die Revolutionsveteranen – Deng starb 1997 – an die Macht. Seit dem 18. Parteitag stellen nun Xi Jinping und sein neues Politbüro die jüngste – und fünfte – Führungsriege.

Das entscheidende Machtgremium der KPCh ist der Ständige Ausschuß des Politbüros, der die laufenden Geschäfte der Parteiführung wahrnimmt. Das Gremium besteht aus sieben Mitgliedern:
  • Xi Jinping (59 Jahre alt), Generalsekretär des ZK der KPCh. Xi war zuvor Gouverneur von Zhejiang, Fujian und Shanghai, zuletzt Vizepräsident der Volksrepublik. Sein Vater, der Parteiveteran Xi Zhongxun, fungierte bis 1962 als Vizepremier, bevor er während der Kulturrevolution entmachtet wurde. Seit 1979 war er Gouverneur der Provinz Guangdong.
  • Li Keqiang (57) ist der aussichtsreichste nächste Premierminister Chinas. Dieses Amt wird er voraussichtlich im März 2013 beim nächsten Nationalen Volkskongreß übernehmen.
  • Zhang Dejiang (66) ist bislang Vizepremier. Er könnte ebenfalls 2013 Vorsitzender des Nationalen Volkskongresses werden.
  • Yu Zhengsheng (67) soll die Politische Konsultativkonferenz des chinesischen Volkes leiten, die beratende Funktionen hat.
  • Liu Yunshan (65) ist der Leiter der ZK-Abteilung für Propaganda und zeichnet somit für alle Parteimedien verantwortlich.
  • Wang Qishan (64) ist der neue Chef der Disziplinkontrollkommission des ZK, der machtvollen Antikorruptionseinheit.
  • Zhang Gaoli (66), bisheriger Parteichef von Tianjin, wird für Sicherheit zuständig sein.
Der Ständige Ausschuß fällt seine Entscheidungen im Konsensprinzip. Auch der Generalsekretär gehört zur kollektiven Führung und kann nicht im Alleingang entscheiden – er vermittelt die getroffenen Beschlüsse an Partei und Öffentlichkeit. (sc)




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