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Chinas Sorge um die Gerechtigkeit

Zentralkomitee der KP diskutierte den Entwurf des nächsten Fünfjahrplans

Von Werner Birnstiel *

In der Sprache der Kommunistischen Partei Chinas war es das 5. Plenum des 17. Zentralkomitees der KPCh, das vier Tage lang den Entwurf des 12. Fünfjahrplans 2011 bis 2015 beriet. Und es stellte die Weichen für den nächsten Führungswechsel, indem es Vizepräsident Xi Jinping zum Vizechef der Militärkommission ernannte, was als Vorstufe der Wahl zum Generalsekretär des ZK der KP gilt.

China soll sich nach dem Willen der Parteiführung in den kommenden fünf Jahren von einer »Kraftzentrale der Produktion« für die Welt zu einer stärker »konsumierenden Gesellschaft« entwickeln. Das heißt: Bei verringerter Exportquote soll der Binnenverbrauch deutlich stärker wachsen. Geplant wird ein jährliches Wirtschaftswachstum von etwa 7,5 Prozent, für 2011 sind jedoch noch 11 Prozent angepeilt. Durch eine ausgewogenere ökonomische Entwicklung will die Partei größere soziale Gerechtigkeit durchsetzen und einen »bescheidenen Wohlstand« für möglichst große Kreise der Bevölkerung erreichen. Der Fünfjahrplan wird im kommenden März vom Nationalen Volkskongress formell beschlossen werden.

In der Diskussion des 370-köpfigen Zentralkomitees wurde hervorgehoben, es sei eine politische Aufgabe höchster Dringlichkeit, soziale Konflikte zu mildern, indem die ungleiche Verteilung der Einkommen abgebaut wird. Noch seien die Früchte des ökonomischen Wachstums überaus ungerecht verteilt. Daraus erwachsende soziale Konflikte gefährdeten die innere Stabilität.

Tatsächlich sind die Probleme immens. Auch in China sind die Arbeitskosten inzwischen kräftig gestiegen, Unternehmen klagen über große Liquiditätsprobleme. Scharfe innerchinesische Konkurrenz und die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise haben die Pleite etlicher Firmen zur Folge gehabt. Einerseits wird ein empfindlicher Mangel an Facharbeitern und die unzureichende Qualifikation mittleren technischen Personals registriert, andererseits jedoch ein riesiger Überhang an wenig oder gar nicht ausgebildeten Arbeitskräften und an »Weißkragen-Intellektuellen«, womit vor allem Hochschulabsolventen sozialwissenschaftlicher Fachrichtungen gemeint sind.

2011 beispielsweise drängen über 20 Millionen Menschen erstmals auf den Arbeitsmarkt, es entstehen aber nur etwa 12 Millionen neue Arbeitsplätze. Schon jetzt sind 30 Prozent der Arbeitskräfte auf dem Lande »überschüssig«, also arbeitslos, in den Städten beläuft sich deren Anteil auf mindestens 8 Prozent. Die Zahl der - zumeist gering qualifizierten - Wanderarbeiter beträgt nach offiziellen Angaben 230 Millionen.

Nach wie vor ist der Umgang mit natürlichen und menschlichen Ressourcen oft nicht anders als verschwenderisch zu bezeichnen. Jüngstes dramatisches Beispiel dafür ist das Bergwerksunglück in Yuzhou in der zentralchinesischen Provinz Henan, dem 37 Männer zum Opfer gefallen sind. Chinesen kritisieren ohne Umschweife, dass manche Kohlebarone in den Provinzen nach dem Motto »Der Himmel ist hoch, Peking ist weit« mit krimineller Energie Geld scheffeln, deshalb kostentreibende Sicherheitsstandards missachten oder sie in der Erwartung senken, das es schon gut gehen werde. Örtliche Verantwortliche tolerieren vieles, um in »ihrer« Region dank möglichst hoher Steuereinnahmen Investitionen in verschiedensten Bereichen finanzieren und »oben« spektakuläre Industrieprojekte vorweisen zu können.

Der chinesischen Führung sind diese Probleme durchaus bewusst. Sie will deshalb die Urbanisierung spürbar vorantreiben. Umfassender als es der Begriff aussagt, sollen Fortschritte in der wirtschaftlichen Entwicklung mit Reformen des Preissystems für Rohstoffe und Energie verbunden werden, wobei dem Umweltschutz größeres Gewicht eingeräumt wird. Für den chinesischen Lebensalltag bedeutet das zugleich, dass das Niveau sozialer Dienstleistungen auch auf dem Lande dem in nahe gelegenen kleineren und mittleren Städten schrittweise anzugleichen ist. Die traditionell sehr strikte politische, soziale und administrative Trennung zwischen Stadt und Land soll mittelfristig aufgehoben werden. Organisationen und Strukturen, die auch als soziale Sicherungssysteme wirken und rechtzeitig individuelle Notlagen verhindern helfen, sollen auf- und ausgebaut werden.

Vor dem Hintergrund der Aufrufe von Intellektuellen zu politischen Reformen bekräftigte das Zentralkomitee, die Führung der gesellschaftlichen Prozesse durch die Partei sei die »fundamentale Garantie« dafür, dass die Ziele des Fünfjahrplans erreicht werden. Wichtiger Bestandteil einer politischen Reform, wie sie die KP versteht, sei es, die »Regierungstätigkeit transparenter« und so zu gestalten, dass die Bevölkerung ihre Rechte wirksam wahrnehmen kann. Gesetze müssen demnach so abgefasst sein, dass sie die Durchsetzung von Recht und Gerechtigkeit in der Praxis tatsächlich fördern. Dazu soll das System der öffentlichen Rechenschaftspflicht und der demokratischen Kontrolle ausgebaut werden. »Demokratie ist gut, du musst nur wissen, wie sie zu verwirklichen ist«, äußern hochrangige Verantwortliche in China unumwunden.

Politische Kontinuität, Berechenbarkeit und Stabilität soll auch der bevorstehende Führungswechsel gewährleisten. Auf dem 18. Parteitag der KP Chinas 2012 wird der heute 57-jährige Vizepräsident Xi Jinping voraussichtlich als Nachfolger des zehn Jahre älteren Hu Jintao zum Generalsekretär des ZK der KP Chinas gewählt werden, um ihn später auch als Staatsoberhaupt abzulösen. Als erster Schritt gilt seine Ernennung zum Vizevorsitzenden der Militärkommission der KP durch das am Montag zu Ende gegangene ZK-Plenum. Auch in diesem Amt ist er Stellvertreter Hu Jintaos.

Zahlen und Fakten: Chinesische Dimensionen

China zählt derzeit 1,34 Milliarden Einwohner. Ohne Geburtenkontrolle wären es nach chinesischen Angaben bereits 1,75 Milliarden. Jährlich nimmt die Bevölkerungszahl um rund 8 Millionen zu. Der Anteil der 15- bis 64-Jährigen beläuft sich auf 69 Prozent, sinkt jährlich jedoch um 0,5 Prozent. Für das Jahr 2030 rechnet man mit 300 Millionen Rentnern, 2040 kommt auf zwei Arbeitskräfte ein Rentner, so dass eine Versorgungslücke droht. Die soll durch eine vorsichtige Lockerung der Ein-Kind-Politik ab 2014 verhindert werden. 2011 werden dazu erste Pilotprojekte in mehreren Provinzen in Angriff genommen.



* Aus: Neues Deutschland, 20. Oktober 2010


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