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Mit Empathie für die Ausgebeuteten

China, die Visionen des Adam Smith und die Dagongmei

Von Gerhard Hanloser *

Nichts weniger als eine »Genealogie des 21. Jahrhunderts« zu sein beansprucht das neue Werk von Giovanni Arrighi. Der Professor für Soziologie an der Johns Hopkins University untersucht und intepretiert die aktuelle Verschiebung des Epizentrums der globalen politischen Ökonomie von Nordamerika nach Ostasien. Es ist keine Streitschrift von der Art der vielen jüngst erschienenen, die den Kapitalismus, gar den Neoliberalismus in China einfallen sehen. Arrighi rückt in den Mittelpunkt seiner Analyse das vor 250 Jahren erschienene Werk von Adam Smith »Der Wohlstand der Nationen«. Dieser ist für den US-amerikanischen neomarxistischen Soziologen kein Vertreter der brutalen Markt- und Kapitalapologie. Smith erscheint in Arrighis Lesart als ein Theoretiker einer tendenziell nicht-kapitalistischen und nicht-vermachteten Marktwirtschaft. Eine Neuinterpretation.

Der Autor meint, der Aufstieg Chinas im Weltsystem würde grundsätzlich anders verlaufen als der Aufstieg des westlichen Industriekapitalismus dereinst. Den Bedeutungsverlust der USA als Hegemonialmacht hatten auch die Kriege der USA gegen den Terror nicht aufhalten können, im Gegenteil. Das »Scheitern des Projekts für ein Neues Amerikanisches Jahrhundert und der Erfolg der chinesischen Wirtschaftsentwicklung« hätten »die Verwirklichung von Smiths Vision einer Weltmarktgesellschaft auf der Grundlage größerer Gleichheit unter den Zivilisationen der Welt wahrscheinlicher gemacht haben als je zuvor«. Arrighi schreibt: »Die Versuche der USA, die Erlangung von Macht durch den globalen Süden zurückzudrängen, schlugen auf sie selbst zurück. Sie haben das beschleunigt, was ich die 'letzte Krise' der US-Hegemonie nenne, und günstigere Bedingungen für die Bildung eines Commonwealth, einer Gemeinschaft der Zivilisationen, in der Art, wie Smith sie sich vorgestellt hat, geschaffen als je zuvor.«

Eine Gemeinschaft der Zivilisationen - und China an der Spitze? Es sind diese Hypothesen, die das Buch für Kritik am anfälligsten machen. Für Arrighi weisen die sozialen Maßnahmen im heutigen China in eine nichtkapitalistische Richtung. Und dies sei solange der Fall, wie »das Prinzip des gleichen Zugangs zu Grund und Boden anerkannt und angewandt« werde. Der von der Weltsystemtheorie geprägte Autor meint, dass sich in China ein neues wirtschaftliches Modell entwickeln könne - eine »Akkumulation ohne Enteignung«. Arrighi widerspricht explizit den Ausführungen des Neoliberalismuskritikers David Harvey, der Deng Xiaoping neben Reagan, Pinochet und Thatcher stellt. Deregulierung und Privatisierungen hätten viel langsamer in China gegriffen als vom Washingtoner Konsens erwünscht und gefordert. Der 1937 in Italien geborene Autor spricht von einer »relativen Sanftheit« der Wirtschaftsreformen. Ganz im Sinne von Adam Smith lasse man in China die Kapitalisten anstelle der Arbeiter miteinander konkurrieren, so dass die Profite auf ein »tolerierbares Mindestniveau« gesenkt werden.

Arrighi verschweigt nicht die zuweilen heftigen Arbeiterkämpfe und Revolten gegen Massenentlassungen und verheerende Arbeitsbedingungen. Er vergleicht die Situation im heutigen China mit jener in den USA der 1930er Jahre. Da erhebt sich die Frage: Kann sich China einen New Deal leisten?

Ein anderes Buch, dass nicht die Vogelperspektive einnimmt, sondern einen radikalen Blick von unten offeriert, kommt zu weniger optimistischen Ergebnissen. Während Adam Smith bei Arrighi der theoretische Pate der chinesischen Wirtschaft ist, heißen die Paten für die radikalen Arbeiteraktivistinnen und Soziologinnen Pun Ngai und Li Wandwei Jeremy Pantham mit seinen Überwachungsfantasien und Henry Ford, der Erfinder der despotischen Fließbandarbeit. In der Industriestadt Shenzhen haben die beiden Autorinnen sogenannte »Dagongmei«, Fabrikarbeiterinnen, interviewt und deren Geschichten aufgeschrieben.

Das Buch zeugt von Empathie für die Ausgebeuteten, wie wir sie nur von Simone Weil und russischen Sozialrevolutionären kennen, die ihrer Klasse abgeschworen haben und ins Volk gegangen sind. Die von Pun Ngai und Li Wanwei interviewten Frauen erzählen von der Benachteiligung der Mädchen in der Familie und erschreckend patriarchalen Verhältnissen, die wiederum die Frage aufwerfen, ob der Maoismus die alte patriarchale Kultur wohl doch nicht zerstört hat. Viele Mädchen fliehen vor Zwangsheirat und prügelnden Eltern aus den Dörfern. Die Stadt und die Fabrik ist Hoffnung und Schrecken zugleich. Die Lebensbedingungen in den Betriebswohnheimen sind übel, die Taktzeiten an den Fließbändern barbarisch. Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten sind keine Seltenheit. Die Interviews zeugen aber auch vom Erwachen eines neuen Selbstbewusstseins der jungen, weiblichen Arbeitergeneration in China.

Giovanni Arrighi: Adam Smith in Beijing. Die Genealogie des 21. Jahrhunderts. VSA Verlag, Hamburg. 520 S., br., 36,80 €.

Pun Ngai/Li Wanwei: Dagongmei. Arbeiterinnen aus Chinas Weltmarktfabriken erzählen. Verlag Assoziation A, Berlin/Hamburg. 260 S., geb., 18 €.


* Aus: Neues Deutschland, 28. Mai 2009


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