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"Größtes Entwicklungsland der Erde"

Es geht allen besser, aber noch bleibt viel zu tun: China, ein Land voller Widersprüche. Die westlichen Medien sollten diese objektiver abbilden. Ein Gespräch mit Botschafter Shi Mingde *




Herr Shi, Sie sind seit August 2012 Botschafter der Volksrepublik China in Berlin. Was verbindet Sie mit Deutschland, welche Ziele setzen Sie sich?

Zunächst möchte ich meine herzlichen Grüße an die junge Welt und ihre Leser richten: Ich kenne und lese die Zeitung, seit ich 1972 zum ersten Mal nach Berlin kam. Es ist für mich eine große Freude, nun der jW ein Interview als chinesischer Botschafter geben zu können.

In diesem Jahr feiern wir den 40. Jahrestag der Aufnahme staatlicher Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik (VR) China – das sind auch für mich persönlich genau 40 Jahre im diplomatischen Dienst, seit ich ab 1972 drei Jahre lang in Ostberlin, der damaligen Hauptstadt der DDR, studiert und anschließend fünfmal in den chinesischen Vertretungen in Berlin und in Bonn gearbeitet habe. Es ist eine verantwortungsvolle Aufgabe, als chinesischer Botschafter tätig zu sein. Ich will meine Kraft für mehr Kooperation, mehr Freundschaft und mehr Verständigung zwischen unseren Völkern und Staaten einsetzen.

China ist in den 40 Jahren seit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen immer wichtiger für Deutschland geworden. Wie schätzen Sie die bilaterale Entwicklung ein?

Mit der DDR haben wir schon 1949 diplomatische Beziehungen aufgenommen, die am Tag der Wiedervereinigung endeten. In den 40 Jahren, in denen die Bundesrepublik und die VR China offizielle Kontakte pflegen, haben sich die Beziehungen beider Länder sehr schnell entwickelt. Es herrscht reger Besuchsaustausch auf höchster politischer Ebene; Bundeskanzlerin Merkel war sechsmal in China, unser Ministerpräsident Wen Jiabao hat Deutschland genauso oft einen Besuch abgestattet. Seit 2011 finden Regierungskonsultationen auf der Ministerpräsidentenebene statt, das letzte Mal im August. Außerdem haben wir sehr starke Handelsbeziehungen: Im vergangenen Jahr machte das chinesisch-deutsche Handelsvolumen ein Drittel des gesamten chinesischen Handels mit der EU aus; das ist so viel wie mit Frankreich, Großbritannien und Italien zusammen. Deutschland hat zur Zeit 7000 Firmen in China, 1600 chinesische Unternehmen sind in Deutschland tätig. In diesem Jahr findet in Deutschland das chinesische Kulturjahr mit mehr als 500 Veranstaltungen statt. Außerdem studieren hier rund 30000 Chinesen, sie sind die größte ausländische Studierendengruppe in Deutschland. Das zeigt die ganze Breite und Tiefe unserer Beziehungen. Gerade in der Krisenzeit brauchen wir mehr Kooperation, damit wir uns neuen Herausforderungen stellen können.

Chinesische Nachrichten berichten viel über Deutschland, die VR China ist ebenso sehr präsent in den deutschen Medien. Finden Sie die Berichterstattung in den beiden Ländern über das jeweils andere Land fair und ausgewogen?

Das ist ein Problem, mit dem ich mich ständig beschäftige: Das öffentliche Bild Chinas ist nicht unbedingt identisch mit dem veröffentlichten Bild. Die Schlagzeilen gehen da manchmal von einem Extrem ins andere: Ich lese in den deutschen Medien sehr viel über Bedrohungen durch China oder Geschichten zum bevorstehenden Zusammenbruch des Landes. Daß es kein vollständiges, objektives Bild in der deutschen Öffentlichkeit gibt, ist sicher auch darauf zurückzuführen, daß wenige Menschen China kennen. Einmal sehen ist immer besser als hundertmal hören; die Touristen, aber auch die Abgeordneten und Politiker, die China besucht haben, sehen das Land ganz anders als diejenigen, die nur aus Zeitungen und dem Fernsehen informiert sind. Es gibt wohl mehr Chinesen, die Deutschland verstehen können, als umgekehrt.

Woher kommen diese Unterschiede in der Wahrnehmung?

Im Selbstbild der Chinesen haben wir große wirtschaftlichen Leistungen und Erfolge zu verzeichnen; aber was den Lebensstandard der Menschen betrifft, sind wir noch weit von den europäischen Ländern entfernt. Wir werden Jahrzehnte brauchen, um diesen Stand zu erreichen. China ist ein Land mit großen Widersprüchen. Beijing, Shanghai und die großen Metropolen gehören zu den modernsten der Welt; viele ländliche Regionen sind dagegen immer noch unterentwickelt. Um China richtig zu verstehen, muß man die verschiedensten Aspekte in Betracht ziehen. Ich bin nicht zufrieden mit der Berichterstattung vieler Medien, weil sie manchmal dazu neigen, aus einer Mücke einen Elefanten zu machen. Aber wir haben Geduld, und wir hoffen, daß immer mehr Menschen, auch immer mehr Journalisten, der Realität Rechnung tragen.

Was müßte der deutschen Öffentlichkeit über China vermittelt werden?

Ich hoffe sehr, daß weniger mit einer ideologischen Brille, dafür aber mehr mit Fakten berichtet wird. Nicht nur über das politische, sondern auch über das gesellschaftliche und kulturelle Leben; nicht über die wirtschaftliche Entwicklung, sondern auch über den Wandel in der Einstellung der Menschen, vor allem der Jugend. China ist das Land des Internets, über 500 Millionen Chinesen sind online. Es gibt eine große Meinungsvielfalt im Netz, auch das sollte zur Kenntnis genommen werden. Wer über die Mißstände in China berichtet, sollte die Entwicklung des Landes nicht vergessen. Es gibt Erfolge, aber auch Nachholbedarf. Ein ganzes Bild ist wichtig, nicht nur ein Bruchteil.

Die Bundesregierung hofft auf chinesische Unterstützung bei der Bewältigung der europäischen Rezession; China soll Anleihen von EU-Staaten kaufen, die vor der Pleite stehen. Kann die VR China diese Erwartungen erfüllen?

Es ist, übrigens schon seit den 50er Jahren, unsere Überzeugung, daß ein stärkeres und größer werdendes Europa zur Multipolarität der Welt beiträgt. Europa ist für uns ein großer Markt, umgekehrt ist das ganz genauso. Wir haben Staatsanleihen von hoch verschuldeten Ländern in Europa gekauft, weil wir ein positives Signal geben wollen: China steht auch in schwierigen Zeiten zum Euro und zu Europa. Die Frage, ob Europa gestärkt oder geschwächt aus der Krise hervorgehen wird, hängt allerdings in erster Linie nicht von uns ab, sondern von den Europäern selbst. Wir wollen, daß es Europa besser geht, weil das auch gut für die chinesische Wirtschaft ist – ebenso, wie ein starkes China Europa hilft. Die Hilfe ist eine Selbsthilfe.

Im November dieses Jahres hat der 18. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) eine neue Führung gewählt. Welche Projekte werden in den nächsten Jahren auf der Agenda stehen?

Der 18. Parteitag hat auch hier in der deutschen Öffentlichkeit große Aufmerksamkeit gefunden, schließlich geht es um die zukünftige Entwicklung Chinas und um seine Beziehungen zu anderen Ländern. Wir haben einen wesentlichen Beitrag zum Wachstum der Weltwirtschaft geleistet und spielen eine wichtige Rolle in der internationalen Gemeinschaft. Deshalb geht die Zukunft Chinas alle an.

Der 18. Parteitag hat sich mehrere Ziele gesetzt. Bis 2021, zum 100. Jahrestag der Gründung der KP Chinas, wollen wir den Aufbau einer Gesellschaft mit bescheidenem Wohlstand vollenden. Vor 30 Jahren hatte China noch eine Landbevölkerung von mehr als 80 Prozent, seit wenigen Jahren leben in China zum ersten Mal über 50 Prozent der Menschen in den Städten. Mehr Stadt- als Landbevölkerung, das ist eine historische Wende in der Entwicklung unseres Landes. Wir versorgen ein Fünftel der ganzen Menschheit mit Nahrungsmitteln. Daß niemand mehr hungern muß, daß die Menschen einen besseren Lebensstandard erreichen, das bezeichnen wir als Gesellschaft mit bescheidenem Wohlstand. Das zweite Ziel, das sich der Parteitag gesetzt hat, ist der Aufbau eines starken, reichen und demokratischen Landes. Bis 2049, dem 100. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik Chinas, wollen wir dieses Ziel erreichen. Dafür haben wir konkrete Vorgaben beschlossen: Bis 2020 sollen sich sowohl das Bruttoinlandsprodukt als auch das Einkommen der Bevölkerung verdoppeln. Zum ersten Mal überhaupt wurde von einem Parteitag auch die Erhöhung des Einkommens der Bevölkerung festgelegt. Die Entwicklung der Wirtschaft wird Hand in Hand gehen mit der Verbesserung des Lebensstandards.

Der letzte Generalsekretär der KPCh, Hu Jintao, hat in seinem Rechenschaftsbericht vor den Gefahren der Korruption gewarnt. Wieso ist das Problem so schwer in den Griff zu kriegen?

Korruption ist keine rein chinesische, sondern eine internationale Erscheinung. In China ist das Problem allerdings sehr schwerwiegend; die Korruption ist einer der Gründe für die Unzufriedenheit der Bevölkerung. Um dagegen vorzugehen, wollen wir die Rechtsstaatlichkeit verstärken und die Befugnisse der Funktionäre unter gesellschaftliche Kontrolle stellen: Durch innerparteiliche Demokratie, durch die Berichterstattung der Medien. Keine Person sollte das Sonderrecht haben, sich über die Verfassung und die geltenden Gesetze hinwegzusetzen. Das Problem der Korruption ist eine äußerst wichtige politische Frage, weil es um die Existenz der Partei und des Staates geht. Jeder, unabhängig von seiner Funktion, wird ohne Ausnahme zur Verantwortung gezogen werden, wenn er in solche Fälle verwickelt ist.

Die neue Parteiführung wird zehn Jahre im Amt sein. Welche Probleme müssen in dieser Zeitspanne in Angriff genommen werden?

Seit Beginn der Reformpolitik in den 70er Jahren konnte China große Erfolge erzielen. Der Anteil des Landes an der weltweiten Produktion ist alleine in den letzten zehn Jahren von vier auf zehn Prozent gestiegen, das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von 1135 US-Dollar auf rund 6000 Dollar. Man sollte dabei nicht vergessen, daß wir nur sieben Prozent der weltweiten Ackerfläche zur Verfügung haben, aber 22 Prozent der Weltbevölkerung ernähren müssen. Dieses Ziel haben wir erreicht. Doch in Relation zur Größe der Bevölkerung, zu den 1,3 Milliarden Chinesen, bleiben wir nach wie vor das größte Entwicklungsland der Erde. Deutschland hat ein Inlandsprodukt von 43000 US-Dollar pro Kopf!

In China geht es zwar allen besser, aber es sind auch viele Probleme aufgetreten. Die sozialen Unterschiede zwischen den Regionen, zwischen den Menschen werden immer größer. Die Umweltverschmutzung nimmt zu, die Ressourcen sind begrenzt. Erdöl, Erdgas und andere Naturressourcen müssen fast zur Hälfte importiert werden. Deshalb hat der Parteitag beschlossen, den sozialen Problemen größte Aufmerksamkeit zu widmen: Die Menschen sollen im Mittelpunkt der Politik stehen. Und die Menschen sollen auch ihren Anteil an den wirtschaftlichen Erfolgen haben. Ein weiteres ganz wichtiges Thema ist die Ökologie. Wir wollen den Anteil erneuerbarer Energien von jetzt neun auf 15 Prozent erhöhen; Emissionen sollen im Vergleich zu 2005 um 40 bis 50 Prozent reduziert werden. Früher haben wir in erster Linie auf Wachstum gesetzt. Jetzt heißt das Motto: Statt Quantität mehr Qualität und Effizienz.

Interview: Sebastian Carlens

* Shi Mingde wurde 1954 in Shanghai geboren. Nach einem Studium in der DDR von 1972 bis 1975 war er unter anderem in den chinesischen Botschaften in Bonn und Berlin tätig. Ab 2006 war Shi Generaldirektor des zentralen Büros für auswärtige Angelegenheiten beim ZK der KP Chinas; 2010 wechselte er als Botschafter der VR China nach Wien. Seit August 2012 ist er außerordentlicher und bevollmächtigter Botschafter in Berlin.

Aus: junge Welt, Samstag, 08. Dezember 2012


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