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China bleibt unter Dampf

Inflation, Immobilienblase, baldiger Führungswechsel: Trotz mancher Probleme trotzt das Land erfolgreich dem Krisensog der Weltwirtschaft

Von Wolfgang Pomrehn *

Führende Köpfe internationaler Finanz- und Wirtschaftsorganisationen sorgen sich um die globale Ökonomie. Am Wochenende warnten mit Christine Lagarde, Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF), Pascal Lamy von der Welthandelsorganisation (WTO) und Weltbankpräsident Robert Zoellick, gleich drei Schwergewichte, daß die von vielen Staaten praktizierte »Sparpolitik« dringend benötigtes Wachstum gefährde. Der IWF hatte vor einigen Tagen vorgeschlagen seine Reserven erheblich auszuweiten, um die Welt vor der europäischen Krise schützen zu können. Die Weltbank warnt, daß die Rezession in Europa die Schwellenländer gefährden könne.

Aus dem größten Land dieser Gruppe wird derweil Entwarnung gemeldet. Nachdem im letzten Jahr die Inflation in China den Verantwortlichen die Schweißperlen auf die Stirn getrieben hatte – auf den Wirtschaftsseiten der internationalen Presse wurde wieder vom baldigen Platzen der chinesischen Immobilienblase spekuliert – beruhigen die aktuellen Wirtschaftsdaten aus dem Land der Mitte die Akteure. Die Wirtschaft der Volksrepublik wuchs im letzten Quartal 2011 um immer noch imposanten 8,9 Prozent, gegenüber dem Vorquartal entsprach das einem Rückgang um 0,2 Prozentpunkte. Im Jahresdurchschnitt legte das chinesische Bruttoinlandsprodukt (BIP) 2011 um 9,2 Prozent zu – nach 10,4 Prozent 2010. Allgemein geht die Pekinger Wirtschaftsplanung von acht Prozent BIP-Zuwachs als erwünschte Zielmarke aus.

Die Konjunktur ist also im grünen Bereich, und auch die Inflation hat sich wieder abgekühlt. Im Dezember betrug die Teuerungsrate 4,1 Prozent, was der niedrigste Wert seit 15 Monaten war. Im Jahresdurchschnitt sind die Preise aber um 5,4 Prozent gestiegen, was erheblichen Druck auf die ohnehin steigenden Löhne und Gehälter bedeutet. Die Regierung strebt an, die Teuerung nicht über vier Prozent klettern zu lassen. Allerdings sind die Zeiten exzessiver Preiskontrollen längst vorbei. Heute wird nur noch bei relativ wenigen Gütern, wie etwa Treibstoffen, der Preis politisch vorgegeben. Ansonsten wird versucht, die Infla­tion über die Kreditvergabe zu steuern. Steigen die Preise zu schnell, wird beispielsweise das Volumen der Neukredite eingeschränkt. Die Banken werden dabei angewiesen, das Verhältnis Eigenkapital zur Kreditsumme zu verändern. Allerdings gibt es in China einen ungewöhnlich großen, schwer zu kontrollierenden grauen Kapitalmarkt, auf dem sich Privatleute Geld leihen.

Dennoch scheinen die Maßnahmen fürs erste gewirkt zu haben. Das in Bangkok erscheinende Internetmagazin Asia Times Online berichtet, daß die Fachleute in Ostasien für die nächsten Monate zwar mit einer weiteren leichten Verlangsamung der chinesischen Konjunktur rechnen. Aber unter acht Prozent werde das Wirtschaftswachstum wohl nicht fallen, und ab Jahresmitte könnten die BIP-Zuwachsraten wieder größer werden. Chinesische Planer und Ökonomen gehen davon aus, daß acht Prozent jährlich notwendig sind, um die Arbeitslosigkeit niedrig zu halten und sozialen Unruhen weitgehend vorzubeugen. Allerdings kann auch die Inflation zu einem erheblichen sozialen und politischen Problem werden, denn hinter den noch relativ moderat erscheinenden oben genannten Werten verbirgt sich eine erhebliche Verteuerung der Lebensmittel. Im Dezember 2011 lagen deren Preise um 9,1 Prozent über dem Niveau des Vorjahresmonats. Das ist besonders für den ärmeren Teil der städtischen Bevölkerung ein Problem, der einen erheblichen Teil seines Einkommens für die Ernährung ausgeben muß.

Chinas Führung bewegt sich also derzeit auf einem schmalen Pfad zwischen Ankurbelung des Wachstums und Inflationsbekämpfung, der zusätzlich durch die im Frühjahr bevorstehende Übergabe der Regierungsgeschäfte an die nächste Politikergeneration verengt wird. Die Mehrheit der Posten des ständigen Ausschusses des Politbüros der KP werden neu besetzt, ein neuer Parteichef gewählt, der in Personalunion auch Staatspräsident sein wird, und auch ein neuer Premierminister wird bestimmt. In solchen Zeiten kämen größere Demonstrationen gegen steigende Lebensmittelpreise oder Streiks für höhere Löhne besonders ungelegen, ebenso wie Proteste von Entlassung bedrohter Belegschaften oder arbeitsloser Jugendlicher.

Derzeit jedenfalls schlägt das finanzpolitische Pendel wieder in Richtung Wachstumsförderung durch lockere Geldpolitik aus. Die Auflagen für die großen Banken werden verringert und im ersten Quartal 2012 sollen mehr Kredite für die Wirtschaft zur Verfügung stehen. Schon im Dezember hatte die Geldmenge deutlich zugelegt, und zwar um drei bis vier Prozentpunkte mehr als das Wirtschaftswachstum. Der Inflationsdruck bleibt also bestehen.

Eine andere Gefahr für die Ökonomie der Volksrepublik scheint sich hingegen zu verkleinern. Die extreme Bauwut, die seit Jahren vielen Beobachtern Sorgen machte, hat offenbar nachgelassen. Der Neubau von Wohnhäusern ging im Dezember im Vergleich zum Vorjahr um 19 Prozent zurück. Allen Unkenrufen der letzten Jahre zum Trotz, die ein baldiges Platzen der – zweifelsohne gefährlich aufgeblähten – chinesischen Immobilienblase vorhergesagt hatten, ist es offensichtlich gelungen, diese kontrolliert zu verkleinern. China, die Lokomotive der Weltwirtschaft, steht vorerst weiter unter Dampf.

* Aus: junge Welt, 24. Januar 2012


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