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Dumping-Konkurrenz

Angesichts erfolgreicher Lohnstreiks in der Volksrepublik China hält das Auslandskapital Ausschau nach billigeren Standorten. Vietnam bietet sich an

Von Raoul Rigault *

Das Kapital sei ein »scheues Reh«, behaupten bürgerliche Ökonomen. Zwar sind Anmut, Grazie oder Schüchternheit im Verwertungsprozeß eher selten zu beobachten, ein gewisser Fluchtreflex ist jedoch unverkennbar. Das jüngste Beispiel liefert die Volksrepublik China. In der satte Extraprofite verheißenden »Weltfabrik« geschehen furchterregende Dinge: Die neue Arbeiterklasse in den Schwitzbuden der Küstenregion begehrt auf und setzt mit zahlreichen entschlossen und ausdauernd geführten Streiks deutliche Lohnerhöhungen durch.

Der Schreck sitzt tief. »Die zunehmende Macht der chinesischen Arbeiter« war dem britischen Economist am 29. Juli einen Aufmacher wert. Der Guardian sieht »neue Rechte« und ein ernstzunehmendes Tarifvertragssystem am Horizont, die Süddeutsche Zeitung verkündete gar das »Aus für Billiglöhne«. Tatsächlich haben neben den betroffenen Unternehmen wie Honda, Foxconn oder Toyota auch 27 der 31 Provinzen und Regionen Steigerungen der Mindestlöhne vollzogen oder zumindest angekündigt. Die Raten sind mit bis zu 50 Prozent beeindruckend, allerdings gehen sie von einem sehr niedrigen Niveau aus. So stieg der Satz in der Autonomen Region Xinjiang sprunghaft von 630 auf 960 Yuan und in Tibet gibt es 35 Prozent mehr. In Schanghai sind es mittlerweile 1120 Yuan. Umgerechnet entspricht das allerdings nur 111 bzw. 129 Euro.

Obwohl die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt mit diesen Mindestlöhnen international nur auf Rang 159 liegt, sehen sich ausländische Konzerne verstärkt nach billigeren Alternativen um. Vor allem auch, weil Peking - brutalen Polizeieinsätzen in Einzelfällen zum Trotz - die Streikenden im Wesentlichen gewähren läßt. Ausschlaggebend dafür ist neben der Tatsache, daß es sich um ein Massenphänomen handelt, die Hoffnung auf eine Stärkung der Binnennachfrage und eine Erhöhung des Produktionsniveaus durch technologische Innovationen.

Doch mit Vietnam existiert nicht allzu weit entfernt eine ernstzunehmende Dumpingkonkurrenz. Sieben Firmen sind laut einem Bericht der Schweizer Wirtschaftszeitung Le Temps seit Mai bereits umgesiedelt. Viele andere »Global Player« sind längst dort. In den Boomregionen des Mekongdeltas und Hanois produzieren Canon, Panasonic und Yamaha Computerdrucker, Motorräder und andere Konsumgüter für den Weltmarkt. Allein 2008 flossen 9,3 Milliarden US-Dollar an neuen Direktinvestitionen ins Land. Im Jahr zuvor waren es erst 6,6 Milliarden. Das Zugpferd bildete die Produktion von Elektrotechnik, Kraftfahrzeugen, Maschinen und Ausrüstungen, die bei einem gesamten Wirtschaftswachstum von 6,2 Prozent (2009: 5,3) jeweils rund 25 Prozent zulegten. Uhren sogar 36,4 und Möbel, Kunststoff- und Gummiartikel immerhin 15 bis 18 Prozent.

Wichtige Exportgüter sind darüber hinaus Textilien, Bekleidung und Schuhe. Hauptabnehmer sind zu 18,9 Prozent die USA, gefolgt von Japan (13,6), der VR China (7,2) sowie Australien (6,7). Als wichtigste Lieferanten fungieren China (19,6), der Stadtstaat Singapur (11,8), Taiwan (10,5) und Japan (10,3).

Seit 2007 ist in der Provinz Bac Ninh nahe Hanoi auch der taiwanesische Elektronikriese Foxconn vertreten, der u. a. für Apple und Dell produziert und durch eine, auf unerträgliche Arbeitsbedingungen zurückzuführende Selbstmordserie in seiner 300000 Beschäftigte umfassenden Megafabrik von Shenzen traurige Berühmtheit erlangte. Während die Arbeiter dort mit Überstundenzuschlägen ab 1. Oktober auf umgerechnet 430 Euro im Monat kommen sollen, schwanken die Gehälter in den privaten Gewerbegebieten der vietnamesischen Hauptstadt, wo Foxconn-Gründer Terry Gou fünf Milliarden Dollar investiert hat, umgerechnet zwischen 49,50 und 70 Euro. Da in den noch vorhandenen Staatsunternehmen und im Süden etwas mehr gezahlt wird, Überstundenklopperei die Regel ist, beträgt der Durchschnittslohn landesweit etwa 143 Euro.

Die multinationalen Konzerne wollen auch anderswo in der Region Fuß fassen, ohne China komplett zu verlassen. Der Unternehmerverband Taiwan Electronics and Electrical Appliances Association hat seine Mitglieder bereits aufgefordert, sich nach geeigneten Standorten umzusehen und dabei insbesondere auf Vietnam verwiesen. Laut dem Manager von ST Microelectronics, Mathieu Do Tien Dung, läßt sich von Hanoi aus problemlos auch der südchinesische Markt bedienen. Außerdem stellt das Land selbst mit seinen knapp 86 Millionen Einwohnern einen zukunftsträchtigen Binnenmarkt dar, wobei die Binnennachfrage bislang allerdings unter den niedrigen Einkommen leidet. Denn Vietnam hinkt ökonomisch noch weit hinter dem großen Nachbarn her, krisenanfälliger und abhängiger von seinen neuen »Partnern«.

Davon kündet vor allem das chronische Außenhandelsdefizit, das sich in den letzten drei Jahren zwischen 12,3 und 17,3 Milliarden US-Dollar bewegte. Ein Fünftel der Einfuhren sind nicht durch Ausfuhren gedeckt. Obendrein schrumpften die Devisenreserven 2009 von 23 auf nur noch 15 Milliarden Dollar, während die Auslandverschuldung von 25,2 auf 30,9 Milliarden Dollar zunahm. Vor allem müßte Vietnam seine Infrastruktur auf Vordermann bringen. Der miserable Zustand der Straßen und die durch Energiemangel bedingten Stromrationierungen sind ein erheblicher Standortnachteil. Hier zeigt die seit 1986 im Zuge der Öffnungspolitik erfolgte Konzentration auf den Privatsektor ihre fatalen Nebenwirkungen. Mit einem Staatsverbrauch von nur noch 6,1 Prozent des BIP liegt die »Sozialistische Republik« weit hinter China (13,3), Malaysia (14,3) oder Thailand (10,1) und verfügt, dank Niedrigsteuern, kaum über die notwendigen Mittel.

Für das internationale Kapital ist das nicht die einzige schlechte Nachricht. Streiks und andere Formen von Arbeitskämpfen sind - wie Marx und Engels bereits vor 150 Jahren feststellten - »ökonomische Naturerscheinungen«, die vor den Toren Vietnams, Kambodschas oder Bangladeschs nicht halt machen. Kapitalflucht bleibt so letztlich zwecklos.

* Aus: junge Welt, 25. August 2010


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