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Vorbild für ganz China?

Seit fast vier Wochen streiken Containerarbeiter im Hafen von Hongkong. Die Bedingungen dort unterscheiden sich stark von denen auf dem Festland

Von Rolf Geffken *

Im Hongkonger Hafen wird seit dem 28. März gestreikt. Rund 600 Arbeiter des Hongkong International Terminals (HIT) kämpfen um die Einhaltung von minimalen Arbeits- und Sicherheitsstandards: Seit 15 Jahren wurden ihre Löhne nicht erhöht. Grundlegende Arbeitssicherheitsbestimmungen werden nicht eingehalten. Den Containerbrückenfahrern ist es strikt verboten, Toiletten aufzusuchen. »Ich arbeite neben meiner Scheiße und esse neben meiner Scheiße«, wurde einer von ihnen in der Presse zitiert. Verantwortlicher ist der Tycoon Li Ka-shing, der reichste Milliardär Hongkongs und Asiens. Ihm gehört der Multikonzern Hutchinson. Er versteckt sich hinter formaljuristischen Argumenten und schiebt vor, daß er nur Verträge mit Subunternehmern habe und diese die Arbeiter beschäftigen würden. Diese wiederum – und natürlich auch Mr. Li selbst – versuchen den Streik einfach auszusitzen. Schiffe werden nach Shenzhen in China umgeleitet, der regierungsfreundliche Gewerkschaftsdachverband HKFTU, der mit dem Allchinesischen Gewerkschaftsdachverband ACFTU liiert ist, führt Scheinverhandlungen mit den Arbeitgebern durch, um den Konflikt in die Länge zu ziehen. Die junge aktive Hafenarbeitergewerkschaft, die dem unabhängigem Gewerkschaftsdachverband HKCTU angehört, wird von den Unternehmern nicht anerkannt und ist auch nicht in der Lage, selbst an die Streikenden Unterstützung zu zahlen. In der Öffentlichkeit werden Spenden für die streikenden Arbeiter gesammelt. Professoren gehen mit ihren Studenten in die »Docks«, um zu helfen, wo sie können. Viele einzelne Gruppen leisten Unterstützungsarbeit.

Was allein das »Durchhalten« dieses Streiks für die Arbeiter bedeutet, mag daraus hervorgehen, daß Hongkong über die höchsten Immobilienpreise Asiens verfügt und daß die Realeinkommen der Hafenarbeiter in den letzten Jahren kontinuierlich gesunken sind. Streikbrecher werden eingesetzt, Arbeiter werden ausgesperrt. Mr. Li setzt seine ganze Kapitalmacht ein, um eine kleine Gewerkschaft zu vernichten. Um nichts anderes ging es übrigens im berühmten Hamburger Hafenarbeiterstreik von 1896, den die Unternehmer durch eine Aussperrung sogar ausweiteten, indem sie ganz offiziell und ganz unverblümt den »Kampf« gegen die Arbeiterorganisationen aufnahmen, um diese zu vernichten.

Und Festlandchina? Seit 2010 überrollt das Reich der Mitte eine schier unendliche Kette von Streiks. So unterschiedlich die Arbeitskämpfe dort sind, eines ist ihnen gemeinsam. Sie werden nicht von einer Gewerkschaft unterstützt (weil der gewerkschaftliche Dachverband sich meistens abseits hält), die Unternehmer aber versuchen, die Streikenden auch nicht etwa »totzukämpfen«. Im Gegenteil: Die Arbeitskämpfe dauerten meist nicht mehr als einige Tage, keineswegs mehrere Wochen. Im Anschluß wurden die Streiktage vielfach von den Unternehmen bezahlt.

Vor diesem Hintergrund kann der Streik in Hongkong kein Vorbild für das ganze Land sein: So sehr auch auf dem Festland ein entfesselter Kapitalismus die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten bedroht, so sehr steht auf der anderen Seite fest, daß Arbeitskämpfe vor allem aus politischen Gründen weitgehend geduldet werden. Es kommt nicht zu einem »Klassenkampf von oben«, bei dem Organisationen oder Ansätze dazu durch die Unternehmen gezielt vernichtet werden sollen.

So sehr im Westen immer wieder auf die angeblich rechtsstaatliche Tradition Hongkongs verwiesen wird, bleibt doch festzuhalten, daß Hongkong vor allem eine koloniale Vergangenheit besitzt. Und diese bedeutete im Arbeitsleben vor allem eines: Liberalismus pur. Als der Verfasser bei einem Forschungsaufenthalt im Jahre 2003 auf der Suche nach dem Arbeitsgesetzbuch Hongkongs war, mußte er feststellen, daß Exemplare dieses Arbeitsgesetzbuches nur bei der zuständigen Behörde (aber nicht etwa in Buchhandlungen) erhältlich waren und daß das Hongkonger Arbeitsrecht damals (wie auch heute) im Wesentlichen aus dem Grundsatz der »Vertragsfreiheit« besteht. Kollektive Rechte, wie vor allem Gewerkschaftsrechte, haben da kaum Platz.

Andererseits bleibt zu hoffen, daß die internationale Solidarität mit den Streikenden in Hongkong auch die Arbeiter Festlandschina erfaßt. Über 60 Hafenarbeitergewerkschaften weltweit haben sich inzwischen solidarisch erklärt. Der US-amerikanische Gewerkschaftsdachverband AFL-CIO hat Streikunterstützung garantiert. Der Präsident der Internationalen Transportarbeiterförderation (ITF), Paddy Crumlin, besuchte die Streikenden und bekundete Solidarität. Im immer enger werden Perlflußdelta, an dessen Rändern die Hafenstädte Hongkong und Kanton liegen, ist der Kampf der Hongkonger Arbeiter längst kein Geheimnis mehr. Noch werden Streiks in Festlandchina oft toleriert. Ob auch Solidaritätsstreiks geduldet werden, ist allerdings völlig offen. Das wird davon abhängen, ob die Hafenarbeiter in Kanton oder auch in Shanghai ein solches Recht wahrnehmen werden. Sollte es dazu kommen, dann wäre Hongkong tatsächlich auch ein Vorbild für Festlandchina. Aber in einem ganz anderen Sinne als es sich manche denken: Im Sinne internationaler Solidarität der Gewerkschaften.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 23. April 2013


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