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Peking im Zugzwang

Trotz staatlicher Regulierung: Immobilienspekulation und Kreditblase auch in China. Dramatischer Anstieg der Lebensmittelpreise, Kommunen verschuldet

Von Rainer Rupp *

Der chinesische Ökonom Liu Shucheng von der Akademie für Sozialwissenschaften hat laut Nachrichtenagentur Xinhua kürzlich in Peking die großen Fortschritte gepriesen, die das Land angeblich in der Kunst der makroökonomischen Steuerung gemacht hat. Unter Führung der kommunistischen Partei habe China mit seinem »stabilen und hohen« Wachstum die zerstörerischen kapitalistischen Wirtschaftszyklen von Überhitzung und Rezession überwunden, und das seit 30 Jahren – also seit der Abkehr von der sozialistischen Planwirtschaft und der Hinwendung zur westlichen Marktwirtschaft.

Tatsächlich hört sich Shucheng an wie einer der vielen bürgerlichen Ökonomen, die vergeblich davon geträumt haben, Regularien zur wirtschaftspolitischen Feinsteuerung zu entwickeln, um die Höhen und Tiefen des Krisenzyklus in sanfte Wellen umzuwandeln. Das hat bisher noch nie geklappt, und es gibt keinen Grund, weshalb es das jetzt im chinesischen Kapitalismus anders sein soll.

Hunger droht

Tatsächlich häufen sich derzeit in China krisenhafte Entwicklungen. Vor diesem Hintergrund wirken Chuchengs Einlassungen wie das berühmte Pfeifen im Wald. Geldentwertung, Kredit- und Immobilienblase, unzureichende Lohn­entwicklung: Das sind die Probleme, die auf das Reich der Mitte zukommen. Seit 34 Monaten ist die Inflation kontinuierlich gestiegen und hat im Mai nach offiziellen Angaben 5,5 Prozent erreicht. Beobachtern zufolge soll sie jedoch bei sieben Prozent liegen. Bei Nahrungsmitteln erhöhten sich die Preise sogar im zweistelligen Bereich. Wegen der großen Dürre in einigen für die Landwirtschaft wichtigen Provinzen und wegen Überschwemmungen in anderen wird der Preisdruck nicht nachlassen. Besonders gefährlich ist, daß die Löhne für die Arbeiter, insbesondere für die Millionen Wanderarbeiter in den großen Städten, die von der Hand in den Mund leben, mit der Inflation nicht Schritt halten. Denn in einem Entwicklungsland, das China trotz aller Fortschritte zum größten Teil noch ist, wird ein Großteil des Einkommens für Lebensmittel ausgegeben. Zweistellige Preis­erhöhungen in diesem Bereich führen schnell zu Hunger, was für das Land katastrophale soziale und politische Folgen haben könnte.

Mit Beginn der globalen Finanzkrise 2008 hat auch China seine Wirtschaft wiederholt massiv stimuliert. In der Folge erhöhten die Banken ihr Kreditvolumen im Inland jährlich um über 30 Prozent – was einer der Gründe für die Inflation ist. Massive Schuldenprobleme haben derzeit insbesondere die Städte und Kommunen. Deren Schulden sind laut chinesischer Zentralbank im Juni auf 2,2 Billionen Dollar gewachsen. Das sind sagenhafte 40 Prozent des chinesischen Bruttoinlandsprodukts. Ein großer Teil des Geldes wurde in den Bau unproduktiver Prestigeobjekte gesteckt, weshalb nun das Begleichen der Verbindlichkeiten und damit auch die Gesundheit der chinesischen Banken in Frage gestellt ist. »Wegen unzureichender Rückzahlungsfähigkeit können einige Kommunen ihre Schulden nur noch bezahlen, indem sie neue Schulden machen«, warnte unlängst sogar Chinas Rechnungshof. Zugleich zeigt diese Entwicklung, daß zumindest ein Teil der wirtschaftlichen Expansion in den letzten Jahren nicht organisch stattfand, sondern ein »falsches«, durch eine Kreditblase und Spekulation stimuliertes Wachstum war.

Das Schuldenproblem der lokalen Verwaltungseinheiten in China wird durch die Immobilienblase noch verstärkt. Das Paradebeispiel dafür steht in der Inneren Mongolei. Es ist die für eine Million Einwohner gebaute funkelnagelneue Stadt Ordos, mit großzügiger Architektur, Bürohochhäusern, Verwaltungszentren, Museen, Theatern, Sportkomplexen, endlosen Reihen hübscher Doppelhäuser und Bungalows für die Mittelschicht. Aber die Stadt steht leer. Außer den Wachleuten lebt dort niemand, denn die Häuser und Apartments sind reine Spekulationsanlagen. Investoren, die die Wohneinheiten zu noch höheren Preisen kaufen wollen, lassen sich nicht finden – ein klares Zeichen, daß die Blase kurz vor dem Platzen ist. Und Ordos ist nur ein Beispiel.

Immobilienkrise

Am Mittwoch hat Chinas Zentralbank zum dritten Mal in diesem Jahr die Zinsen erhöht – auf 6,56 Prozent. Dadurch soll die Inflation bekämpft werden. Aber zugleich werden in der Folge Immobilienkredite teurer, was den Zeitpunkt des Platzens der Blase nach vorn ziehen dürfte. Aber weil man in China beim Hauskauf, anders als in den USA, 30 bis 40 Prozent Eigenkapital mitbringen muß, dürften selbst bei einem Kollaps die Immobilienpreise weniger stark fallen als in den Vereinigten Staaten. Dafür hat der eine größere Breitenwirkung. In China legt nämlich meist die gesamte Verwandtschaft für einen Hauskauf zusammen, um das Eigenkapital aufzubringen.

Sollte sich die relativ erfolgreiche und begüterte chinesische Mittelschicht durch die Entwicklung auf dem Immobilienmarkt wieder von Verarmung bedroht sehen, dürfte dies Wut entfachen, die sich auch gegen die politische Führung in Peking wenden würde. Zugleich könnten infolge der steigenden Lebensmittelpreise breite Massen der Arbeiterschaft erneut mit dem Hunger konfrontiert werden. Außerdem ist bei einem Platzen der Kredit- und Immobilienblase mit einem starken Anstieg der Arbeitslosigkeit und folglich mit einem empfindlichen Einbruch beim Wachstum zu rechnen.

Dennoch sind viele China-Beobachter, insbesondere im Westen, optimistisch. Sie vertrauen auf die heilende Wirkung staatlicher Eingriffe. Aber selbst, wenn Peking versuchen würde, die Blase durch weiteres Aufpumpen zu erhalten, würde dies die Inflation mit all ihren Folgen nur noch weiter entfachen. Die Regierung ist im Zugzwang. Doch selbst das Politbüro kann die Auswüchse seines kapitalistischen Wirtschaftssystems nicht per Dekret verschwinden lassen.

* Aus: junge Welt, 9. Juli 2011


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