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Schwierige Gemengelage

Aufgrund der Turbulenzen in den USA müssen Chinas Ökonomen durch unruhige und tückische Gewässer steuern

Von Wolfgang Pomrehn *

Die chinesische Wirtschaftspolitik befindet sich in einer Zwickmühle. Einerseits leidet die Volksrepublik unter einer Inflationsrate, die im Juli mit 6,5 Prozent ein Dreijahreshoch erreichte. Eine Begrenzung der ausgegebenen Kredite wäre also dringend angesagt. Andererseits drohen in Übersee durch die Krise in den USA und die schwelende Euro-Krise wichtige Exportmärkte einzubrechen. Der heimischen Wirtschaft muß also dringend unter die Arme gegriffen werden. Einschränkungen bei der Kreditvergabe oder höhere Zinsen wären da Gift.

Doch damit hören die Komplikationen noch nicht auf. Die Inflationsrate ist nämlich nur ein Mittelwert, der verbirgt, daß sich insbesondere Lebensmittel in den letzten Monaten stark verteuert haben. Schweinefleisch, in China mit Abstand die wichtigste Fleischsorte, verteuerte sich binnen Jahresfrist um 56,7 Prozent, Eier um 19,7, Gemüse um 7,6 Prozent. Im Durchschnitt mußten im Juli 2011 für Lebensmittel 14,8 Prozent mehr bezahlt werden als noch ein Jahr zuvor. Auch bei durchschnittlichen Einkommenszuwächsen um die zehn Prozent bedeutet ein derartiger Preisauftrieb für die weniger Begüterten einen schmerzhaften Kaufkraftverlust.

Mehr Binnenmarkt

Dennoch kündigte Ministerpräsident Wen Jiabao letzte Woche an, daß die Regierung ihre Prioritäten verschieben wolle. Anders als noch vor einem Monat hat die Inflationsbekämpfung nicht mehr oberste Priorität. »Wir sollten eine angemessene Bilanz zwischen dem Umgang mit der Inflation, dem weiteren Wirtschaftswachstum und der Anpassung unserer wirtschaftlichen Strukturen halten«, zitieren ihn Hongkonger Zeitungen nach einer Kabinettssitzung, die sich ausführlich mit dem Thema beschäftigte. Mit der Anpassung der wirtschaftlichen Strukturen ist unter anderem der Abbau der Exportabhängigkeit gemeint. Die Regierung in Beijing (Peking) verfolgt seit einigen Jahren das Ziel, den Binnenmarkt schneller zu entwickeln, wodurch die Produktion für ausländische Märkte relativ an Bedeutung verlieren würde. Allerdings hat das bisher vor allem zu gewaltigen Investitionen in Infrastrukturprojekte geführt. Fast 50 Prozent des chinesischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) wurden in den letzten Jahren in Straßen, Schienen, Flughäfen, Wohnungen und neuen Fabriken gesteckt. Das Wachstums des privaten Konsums nimmt sich dagegen eher bescheiden aus. Zum Vergleich: In europäischen Industriestaaten werden meist weniger als 20 Prozent des BIP in die Infrastruktur investiert. Allerdings hat das enorme Konjunkturprogramm, mit dem der chinesischen Wirtschaft ab 2008 ziemlich erfolgreich über die nordatlantische Finanzkrise hinweggeholfen wurde, zu einigen Exzessen geführt.

Manches Projekt wurde am Bedarf vorbei geplant, einige Wirtschaftszweige, wie zum Beispiel die Windkraft- und Solaranlagenhersteller, haben mit Überkapazitäten zu kämpfen, und insbesondere der Wohnungsmarkt zeigt in vielen Städten Überhitzungstendenzen. Mehr Anlageninvestitionen zur Ankurbelung des Binnenmarktes sind also kaum möglich, statt dessen müßte der private Konsum stärker gefördert werden. Dem stehen allerdings die hohen Lebensmittelpreise entgegen, die insbesondere bei den Geringverdienern einen großen Teil des Einkommens auffressen. Für Kleidung und Unterhaltungselektronik made in China bleibt da nicht viel über.

Günstige Kredite

Angeheizt wird die Inflation allerdings nicht nur durch günstige Bankkredite, sondern auch durch zwei weitere Faktoren, die von der Regierung nur sehr schwer direkt zu kontrollieren sind. Zum einen hat China eine ungewöhnlich hohe Sparrate, die in Verbindung mit einer für europäische Vorstellungen etwas ungewohnte Geldkultur dazu führt, daß sehr viele Privatkredite unter Freunden, Nachbarn und Familienangehörigen vergeben werden. Die lassen sich mit den üblichen finanzpolitischen Maßnahmen nicht kontrollieren. Wohnungen werden zum Beispiel trotz der hohen Preise oft bar bezahlt, so daß sich der Wohnungsmarkt durch Einschränkung der Kreditvergabe durch Banken nicht zähmen läßt. Hinzu kommt als weiterer die Inflation anheizender Faktor ausländisches Kapital, das auf der Suche nach einträglichen Anlagemöglichkeiten in großen Mengen ins Land strömt. Dadurch wird die Geldmenge zusätzlich aufgebläht, was die Preise in die Höhe treibt. Angesichts der fallenden Aktienkurse an den meisten internationalen Börsen, einschließlich der ostasiatischen, wird sich der Kapitalzufluß in den nächsten Monaten eher noch verstärken. Hinzu kommt, daß extrem niedrige US-Zinsen es attraktiv erscheinen lassen, in den USA Kredite aufzunehmen und das Geld gewinnbringend in China zu investieren.

Wie die chinesische Führung mit dieser komplizierten Gemengelage umgehen wird, ist derzeit noch offen. Am Wochenende zitierte die chinesische Nachrichtenagentur Xinhua führende Banker, die sich trotz allem für Zinserhöhungen aussprechen. Noch würden sich die Zinsen unter dem Vorkrisenniveau von 2008 bewegen. Erleichterung könnte außerdem eine Lockerung der Bindung der chinesischen Währung an den US-Dollar bringen. Eine moderate Aufwertung des Yuan würde Importe verbilligen und so der Inflation entgegen wirken.

* Aus: junge Welt, 15. August 2011


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