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Wenn die Fakten stören

China-bashing und japanischer Geschichtsrevisionismus

Von Ingo Nentwig, Peking *

Die bürgerliche Presse hat offenbar mal wieder ein Thema gefunden, ihr rituelles »China-bashing« auszutoben: Chinesische Nationalisten terrorisieren mit Krawall japanische Einrichtungen und Bürger in China, und die chinesische Regierung provoziert mit ihrem frechen Anspruch auf die Diaoyu-Inseln (japanisch: Senkaku-Inseln) das arme kleine Japan. Was bleibt von dieser einseitigen Sichtweise übrig, wenn man einen Blick auf die Fakten wirft?

Japan hat die chinesischen Diaoyu-Inseln im ersten japanisch-chinesischen Krieg 1894 erobert und im erzwungenen Friedensvertrag von Shimonoseki 1895 zusammen mit Taiwan und den Penghu-Inseln unter seine Kolonialherrschaft genommen. Mit der Kairoer Erklärung der Allierten (27. November 1943) und schließlich mit der Potsdamer Erklärung (26. Juli 1945) wurde festgelegt, daß Japan nach seiner Kapitulation alle Gebiete, die es sich seit dem japanisch-chinesischen Krieg widerrechtlich angeeignet hatte, an China zurückzugeben habe. Taiwan und die Penghu-Inseln wurden tatsächlich zurückgegeben, aber Diaoyu blieb – zusammen mit Okinawa – von den USA besetzt. Grundlage war der Friedensvertrag von San Francisco (8. September 1951), gegen den China umgehend Protest einlegte, da es an den Verhandlungen nicht beteiligt war. Damit war bereits die fortdauernde Kontrolle Diaoyus im Rahmen der US-Besatzung völkerrechtlich unwirksam. Als Washington am 15. Mai 1972 Okinawa zusammen mit den Diaoyu-Inseln an Japan »zurückgab«, legte China umgehend Protest gegen diesen völkerrechtswidrigen Akt ein. Japan übt seitdem de facto die Kontrolle über Diaoyu aus. Bei der Normalisierung der chinesisch-japanischen Beziehungen 1972 wurde die Streitfrage für eine Lösung in fernerer Zukunft beiseite geschoben, ohne daß China und Japan ihre entgegengesetzten Standpunkte aufgaben. Deng Xiaoping sagte in diesem Zusammenhang einmal sinngemäß, daß die heutige Politikergeneration beider Länder nicht reif genug für eine Lösung der Frage sei und man sie deshalb am besten zukünftigen Generationen überlassen solle. Bei diesem weisen Ratschlag blieb es, bis Japan seit Juli 2011 durch fortgesetzte und immer dreistere Provokationen den Status quo in Frage zu stellen begann. China hatte bis dahin zwar nicht auf seine völkerrechtlichen Ansprüche verzichtet, aber die Kontrolle der Inseln durch Japan toleriert, das seinerseits darauf verzichtete, sie zu besiedeln, dort Forschungs- oder Militärstationen zu errichten oder sie in besonderem Maße für antichinesische Propaganda zu mißbrauchen. Seit einem guten Jahr aber wurde die »Inselfrage« zum Spielball innerjapanischer politischer Auseinandersetzungen, in denen eine nationalistische Profilierung von Rechtsextremisten bis weit in die konservative Mitte hinein betrieben wurde. Am 11. September 2012 »kaufte« die japanische Regierung schließlich die Inseln von einem angeblichen japanischen Privatbesitzer. Dieser Akt mußte von China als offizielle Aufkündigung des bisherigen Kompromisses (Tolerierung gegen Zurückhaltung) begriffen werden und zwang es zu Maßnahmen des Schutzes seiner Souveränität.

Damit ist offenkundig, daß Japan einen Versuch unternommen hat, die territorialen Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs zu revidieren. Die Aggression des japanischen Militarismus als Achsenmacht ist den Völkern Ost- und Südostasiens noch in frischer Erinnerung. Dazu trägt besonders bei, daß viele japanische Politiker, auch führende, bis heute wenig Einsicht in die eigene Geschichte zeigen und sogar eigene Kriegsverbrechen öffentlich leugnen. Heute erleben wir ein Wiederaufleben der aggressiven Arroganz Japans, das bei allen seinen Nachbarn schlimme Erinnerungen weckt.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 18. September 2012


Wütende Proteste in China

Inselstreit geht weiter: Äpfel und Flaschen gegen Japans Botschaft

Von Detlef D. Pries **


Im chinesisch-japanischen Inselstreit war der gestrige 18.September ein kritischer Tag: Das Datum erinnerte an den Mukden-Zwischenfall vor 81 Jahren.

Sollte die Erinnerung an den 18. September 1931 die Gewalt im Streit um fünf winzige unbewohnte Inseln im Ostchinesischen Meer anheizen? An diesem Tag vor 81 Jahren hatten japanische Militärs bei Mukden (heute Shenyang) in Nordostchina einen Sprengstoffanschlag auf die in japanischem Besitz befindliche Südmandschurische Eisenbahn verübt. Chinesischen Partisanen zugeschrieben, diente der Anschlag Japans kaiserlicher Armee als Vorwand für die Besetzung der Mandschurei, auf die 1932 die Gründung des Marionettenstaates Mandschukuo folgte. Der Mukden-Zwischenfall gilt als Vorspiel zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in Asien. Die Gräueltaten dieses Krieges - und ihre unterschiedliche Beschreibung in beiden Staaten - liegen bis heute als Schatten über den chinesisch-japanischen Beziehungen. Was sich wiederholt auch im Streit um die Inselgruppe erwies, die in China Diaoyu, in Japan Senkaku heißt.

»Die Diaoyu-Inseln« gehören uns« und »Japaner raus« riefen Demonstranten, die am Dienstag zu Tausenden zur vorsichtshalber geschlossenen japanischen Botschaft in Peking strömten. Trotz Überwachung durch ein Großaufgebot an Polizei flogen Äpfel und Plastikflaschen auf das Botschaftsgelände. Auch aus Shenyang, Harbin, Guangzhou, Chongqing und anderen chinesischen Großstädten wurden neue Proteste gemeldet. Aus Sicherheitsbedenken angesichts vorangegangener gewaltsamer Übergriffe und Plünderungen hatten mehrere japanische Unternehmen in China ihre Werke und Geschäfte geschlossen und die Beschäftigten in Urlaub geschickt. Die chinesische Badminton-Mannschaft zog sich von einem Wettbewerb in Japan zurück. Aus dem konfliktträchtigen Seegebiet um den Archipel meldete Japans Küstenwache am Dienstag, zehn chinesische Patrouillenboote seien dort aufgetaucht, jedoch nicht in die Gewässer eingedrungen, die sowohl von Japan als auch von China und Taiwan beansprucht werden. Dagegen haben zwei Japaner nach Regierungsangaben eine der fünf Inseln betreten. Die Regierung in Tokio hatte in der vergangenen Woche beschlossen, drei der Inseln von ihren derzeitigen japanischen Privatbesitzern zu kaufen. In Peking sieht man darin eine Verfestigung unberechtigter Besitzansprüche.

Nachdem die KP-Zeitung »Renmin Ribao« mit Wirtschaftssanktionen gegen Japan gedroht hatte, sagte Chinas Verteidigungsminister Liang Guanglie am Dienstag nach einem Gespräch mit seinem USA-Kollegen Leon Panetta in Peking: »Wir hoffen, dass diese Frage auf friedlichem Wege und durch Verhandlungen angemessen gelöst wird«, man behalte sich aber das Recht auf weitere Schritte vor. Für das Aufflammen der Spannungen sei allein die japanische Regierung verantwortlich. Panetta hatte beide Seiten zur Zurückhaltung aufgerufen. Am kritischen 18. September zumindest blieb eine gewaltsame Konfrontation aus.

** Aus: neues deutschland, Mittwoch, 19. September 2012


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